Komm zu mir, Schwester!
Brüllende Babys und salzige, sandige Kinder mit müden Eltern, die Windeltaschen, Picknickkörbe und leere Thermoskannen schleppen, in denen nur noch die Reste von Limonade kleben. Sie wimmeln auf dem Pier herum, drängeln und zicken und betupfen ihre Sonnenbrände voll brennender Sorge, womöglich zurückgelassen zu werden, sollte es ihnen nicht gelingen, die Ersten auf dem Schiff zu sein. Im Winter ist es anders. Tagesausflügler sind rar. Als ich auf den Pier komme, wartet dort nur Mary Beth Ziegler.
»Hi«, sage ich und setze mich neben sie auf die Bank an der Hafenmauer. »Fährst du rüber oder holst du jemanden ab?«
»Genau genommen, weder das eine noch das andere. Mom schickt mich, ich bringe meinem Dad das Essen.« Sie zeigte auf die Isoliertasche, die sie zwischen ihren FüÃen abgestellt hatte. »Und du?«
»Ich hole Gordon ab«, sagte ich. »Er hatte noch Training nach dem Unterricht.«
»Darlene wartet nachmittags immer auf Blane, damit sie zusammen zurückfahren können.«
»Dann hat sie wohl wirklich was für Basketball übrig.«
»Darlene hat was für Blane übrig.« Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Dann sagte Mary Beth vorsichtig: »WeiÃt du, das hat sie echt verletzt, dass du am Samstag nicht gekommen bist. Wenn du nicht konntest, hättest du ihr doch wenigstens ein Geschenk schicken können oder eine Karte.«
»Ein Geschenk? Warum denn?«
»Das macht man so an Geburtstagen. Besonders, wenn es eine Party gibt.«
»Hatte Darlene Samstag Geburtstag?«
»Ach, Laurie, nun hör aber auf«, sagte Mary Beth gereizt. »Klar hatte sie Geburtstag. Nat und ich haben eine Ãberraschungsparty mit Ãbernachten für sie gemacht und ich hab dich selbst eingeladen. Du hättest mich anrufen müssen, um abzusagen.«
»Du hast mich eingeladen?« Meine Stimme klang ganz dünn und fremd, am Ende der Frage überschlug sie sich sogar. Ich holte tief Luft und musste mich erst mal wieder einkriegen. »Du irrst dich ganz bestimmt. Vielleicht wolltest du mich einladen, aber du hast es nicht getan. Ich wusste gar nichts von einer Party.«
»Ich habe dich mit Sicherheit gefragt«, sagte Mary Beth energisch. »Letzte Woche, an dem Tag, an dem es so neblig war. Du warst drauÃen vor der Post, als ich mit den Briefen rauskam.«
»Und ich hab gesagt, ich würde kommen?«
»Du hast nicht gesagt, dass du es nicht tun würdest. Du hast gelächelt und genickt. Ich hatte es eilig, Ren hat im Auto auf mich gewartet, und ich dachte, du würdest mich schon anrufen, wenn du Genaueres wissen wolltest. Sag bloà nicht, dass du dich nicht daran erinnerst.«
»Ist aber so«, sagte ich. »Tut mir leid. Ich glaub, ich war mit den Gedanken woanders und hab gar nicht gehört, was du gesagt hast. Und das war an dem Tag, als es so neblig war?«
Ganz vage erinnerte ich mich an den Tag. Im November ist Nebel auf der Insel nichts Ungewöhnliches. Dunst steigt vom Wasser auf, und wenn die Sonne nicht durch die Wolken bricht und ihn auflöst, legt er sich wie eine Decke über das Dorf. Das war Mittwoch so gewesen, nein, Donnerstag. Und wo war ich da? Habe ich an diesem Tag die Post aus dem Dorf geholt? Möglich war es durchaus.
Nein, ich war nicht da gewesen. Plötzlich erinnerte ich mich wieder. Mom hatte am Donnerstag ein paar Ãlgemälde für eine Ausstellung in Boston in Kisten verpackt. Bilder zu verpacken war immer ein Familienprojekt, und ich war nach der Schule sofort zum Helfen nach Hause gekommen. Auf der Beach Road war der Nebel so dicht gewesen, dass ich Cliff House erst sehen konnte, als ich schon fast davor stand. Das Haus war so plötzlich vor mir aufgetaucht, als ob ein Vorhang zur Seite gerissen worden wäre, um es zu enthüllen. Ich war reingegangen und die Treppe zum Wohnzimmer hochgestiegen. Dort war ich sofort ans Fenster gegangen. Es war wie mitten in einer Wolke. Ich hatte nicht mal das Wasser sehen können.
Nein, am Donnerstag war ich nicht im Dorf gewesen.
»Du hast mich verstanden«, sagte Beth gerade. »Ich war vielleicht gerade mal einen Meter vor dir und du hast mich angeschaut.«
»Ich sag doch, es tut mir leid.«
»Das reicht nicht. Du musst wirklich mal was dagegen tun, Laurie. Seit den Sommerferien hast du dich so verändert. Das ist allen aufgefallen. Du bist wie ein anderer Mensch. Nat
Weitere Kostenlose Bücher