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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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Hause legte ich es dann auf das Regalbrett in meinem Schrank zu den Geschenken, die ich für meine Familie gekauft hatte. Ich brachte es nicht fertig, es aufzumachen. Doch es war auf seltsame Weise tröstlich zu wissen, dass es da war, als letztes Verbindungsglied zwischen Helen und mir.
    An diesem Abend waren meine Geschwister ganz aus dem Häuschen vor Vorfreude auf das Weihnachtsfest. Nachmittags hatten in der Schule Weihnachtsfeiern stattgefunden, und die beiden waren so mit Zucker abgefüllt, dass sie lieber reden als zu Abend essen wollten. Mom war nicht ganz bei uns. Sie hatte für Natalie Colesons Vater eine Auftragsarbeit angenommen und ein Bild für ihn gemalt, das er seiner Frau zu Weihnachten schenken wollte. Seit dem frühen Morgen hatte sie daran gearbeitet, und jetzt war sie mit den Gedanken immer noch bei der Arbeit und nicht in der Lage, sich auf das Gespräch beim Essen zu konzentrieren.
    Wie so oft bei meinen Eltern glichen sich ihre Stimmungen aus. Dad hatte mit seinem neuen Buch den Punkt erreicht, ab dem sich alles in seinem Sinn entwickeln würde. Damit war sein Kopf frei für andere Dinge. Er holte weit aus und erzählte von den Weihnachtsfesten seiner Kindheit, wobei er mit dem ersten anfing, an das er sich erinnern konnte. Er hatte sich bis zu seinem zwölften vorgearbeitet (da habe ich ein Buch mit Kurzgeschichten von Ray Bradbury geschenkt bekommen), als es an der Tür klingelte.
    Neal ging runter und machte auf. Als er wieder hochkam, guckte er verwundert.
    Â»Jeff Rankin ist da«, sagte er. »Er will mit Laurie reden.«
    Â»Meine Güte, dann bitte ihn doch hoch«, sagte Mom, die aus ihrer Wolke auftauchte.
    Â»Hab ich«, sagte Neal. »Er hat gesagt, er will lieber warten.«
    Â»Ich geh runter«, sagte ich. »Ich war sowieso mit dem Essen fertig.« Und ich hatte keine große Lust, mir die nächsten dreißig Weihnachtsgeschichten meines Vaters anzuhören.
    Jeff stand unten im Flur und wirkte so mürrisch, dass ich mich am liebsten umgedreht hätte und wieder nach oben gegangen wäre. Die Hände in den Taschen seines Parkas, lehnte er an der Wand. Er hatte das Kinn vorgeschoben und sein Blick war finster und grimmig, offensichtlich wollte er seine Wut irgendwie rauslassen.
    Er begrüßte mich mit einer Frage.
    Â»Warum hast du mir nicht erzählt, dass sie Helen verlegen?«
    Â»Ich hab es heute erst erfahren«, sagte ich. »Du anscheinend auch.«
    Â»Wer hat es dir gesagt? Mrs Tuttle?«
    Â»Nein, Helens Vater. Er ist heute Mittag in die Schule gekommen. Helen hatte mir vor ihrem Unfall ein Weihnachtsgeschenk gekauft. Das hat Mr Tuttle mir gebracht, und da hat er es mir dann erzählt.« Das Anklagende in seinem Ton ging mir total gegen den Strich. »Ich hätte es dir heute Nachmittag erzählt, wenn ich dich gesehen hätte, aber du warst nicht auf der Fähre.«
    Â»Ich musste länger bleiben und eine Arbeit nachschreiben.«
    Â»Und warum bist du dann so sauer? Wie kannst du erwarten, dass ich dir was sage, wenn du gar nicht da bist?«
    Â»Ich dachte, du wüsstest es vielleicht schon länger.« Seine Wut schien allmählich zu verrauchen. »Okay, ich entschuldige mich. Ich hätte nicht kommen sollen. Es war nur … nur …«
    Â»Nur was?«, fragte ich sanfter.
    Â»Ich hab nur gar nicht damit gerechnet, dass sie sie verlegen … so weit weg. Ich hab mich nicht mal von ihr verabschieden können.«
    Â»Ich weiß.« Keine Ahnung, was ich noch sagen sollte. »Möchtest du eine Weile mit nach oben kommen? Mit dem Essen sind wir fertig und Dad ist heute Abend in Erzähllaune.«
    Â»Nein danke.« Aber er machte keine Anstalten zu gehen.
    Irgendwas stimmte hier nicht – und es musste um mehr gehen als um Helens Verlegung. Was es war, konnte ich nicht benennen, aber die Schwingungen geballter Gefühle spürte ich deutlich.
    Â»Lass uns ein bisschen rausgehen«, sagte ich.
    Â»Es ist kalt.«
    Â»Es ist immer kalt. Wir müssen ja nicht lange draußen bleiben.«
    Auf seine Antwort wartete ich nicht, sondern holte meine Jacke aus dem Schrank und zog sie an. Als ich mich umdrehte, stand er immer noch in haargenau derselben Stellung da. Die Narben auf der rechten Seite seines Gesichts wirkten fleckig und hässlich im grellen Schein der Deckenbeleuchtung. Ich erinnerte mich daran, wie er ausgesehen hatte, als ich ihn zum ersten Mal

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