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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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ich mich sicher fühlen, das wusste ich.
    Aber sie sagte: »Das will ich hoffen«, und drückte mich noch einmal ganz fest. Dann ließ sie mich genauso schnell los, wie sie mich umarmt hatte. Nebeneinander gingen wir den Flur entlang, ohne uns zu berühren, ohne zu reden, und doch waren wir uns seit vielen Monaten nicht so nahe gewesen.
    Jeff war noch immer mit seinem Stuhl gegenüber vom Fahrstuhl verwurzelt. Seine Augen waren geschlossen, sie klappten aber plötzlich auf, als wir näher kamen.
    Â»Habt ihr was rausgekriegt?«, fragte er.
    Â»Wahrscheinlich nichts, was du nicht schon längst weißt«, sagte ich.
    Â»Die Tuttles …«, seine Stimme versagte, »die hassen mich dafür, hab ich recht?«
    Â»Sie sind zu aufgewühlt und können nicht vernünftig denken.« Ich kenne das Gesicht meiner Mutter mit der ganzen Bandbreite ihres Mienenspiels. In diesem Augenblick zeigte sie Regungen, die ich sonst nur bei ihr sah, wenn sie Neal anschaute. »Komm mit, Jeff«, sagte sie leise. »Es hat keinen Zweck, hier zu warten. Wir dürfen nicht zu Helen und wir können auch sonst nichts für sie tun.«
    Â»Ich muss bleiben«, sagte Jeff mürrisch. »Ich bin verantwortlich. Wenn ich sie nicht allein nach Hause geschickt hätte …«
    Â»Du hast das unmöglich voraussehen können«, sagte Mom. »Du hast getan, was dir in dem Moment richtig erschien.«
    Â»Das schien so praktisch zu sein«, sagte Jeff. »Der Film ging länger, als wir gedacht hatten, und die letzte Fähre sollte wenig später ablegen. Ich hätte sie verpasst, wenn ich sie nach Hause gebracht hätte. Es war spät, aber ich dachte, in einem Taxi würde ihr schon nichts passieren.«
    Â»Ihr habt euch also nicht gestritten?«, fragte ich.
    Â»Verdammt noch mal, nein! Uns war nur die Zeit davongelaufen. Da war so ein Laden, den Helen sich ansehen wollte, und deshalb kamen wir zu spät ins Kino, und dann hat alles länger gedauert, als wir geplant hatten. Was hätte ich denn machen sollen, wenn ich das Schiff verpasst hätte? Bei den Tuttles schlafen? Ja, klasse! Helens Mutter kann mich nicht leiden, seit sie mein Gesicht gesehen hat.«
    Â»Ach, Schatz, das ist es doch nicht«, sagte Mom. So zärtlich hatte ich sie noch nie mit jemandem reden hören, der nicht zur Familie gehörte. »Sie ist wie eine Glucke mit ihrem Küken, weiter nichts.« Sie legte Jeff eine Hand auf den Arm. »Nun komm mit. Wir fahren zusammen nach Hause. Es nützt nichts, wenn wir hierbleiben. Ehrlich gesagt, ich glaube, die Tuttles kommen ohne uns besser zurecht. Sie haben einander – und mehr brauchen sie im Augenblick nicht.«
    Irgendwie, und ich habe nie ganz verstanden, wie sie es angestellt hat, brachte sie Jeff dazu, aufzustehen und mit uns in den Fahrstuhl zu steigen. Bis wir auf der Straße waren, behielt sie die Hand auf seinem Arm. Vielleicht befürchtete sie, er würde ins Krankenhaus zurückrennen, wenn sie sie wegzog. Ein freies Taxi konnten wir nicht finden, also mussten wir den Bus zum Anleger nehmen, in den wir uns mit einem Haufen Leute und ihren Massen an Weihnachtspäckchen zwängten.
    Es herrschte Feiertagsstimmung. Die Leute lachten und rempelten einander ohne böse Absichten an. Die Frau hinter mir summte »Jingle Bells«. Vor mir löcherte ein kleiner Junge mit einer durchdringenden Stimme seine Mutter mit Fragen: »War der Mann im Laden der echte Weihnachtsmann? Ist das auch der Weihnachtsmann, der zu uns nach Hause kommt?«
    Ich klammerte mich an den Haltegriff, als der Bus mit seiner Ladung glücklicher Passagieren davonruckelte, und fühlte mich so fremd wie einer von Dads außerirdischen Besuchern. Es war schon Millionen Jahre her, seit ich das letzte Mal so unbeschwert gewesen war, schien mir.
    Am Anleger stellten wir fest, dass wir die Fähre gerade verpasst hatten und noch über eine Stunde auf die nächste warten mussten. Den größten Teil dieser Zeit saßen wir schweigend da. Ich weiß nicht, was Jeff und Mom dachten, aber ich ließ die Monate seit September noch einmal im Kopf an mir vorüberziehen. Damals hatte ein schlaksiges rothaariges Mädchen angeboten, mir das Geld fürs Mittagessen zu leihen. Hatte ich es ihr eigentlich zurückgezahlt? Ich wusste es nicht mehr. Ich erinnerte mich nicht mal, wie viel es gewesen war. Hatte ich ihr überhaupt je etwas

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