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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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Wohnzimmer fütterte Mom den Kamin mit zerknülltem Geschenkpapier. Noch bevor ich meine Frage stellen konnte, hatte sie sie beantwortet.
    Â»Nein. Mr. Rankin hat nicht noch mal angerufen.«
    Â»Meinst du, ich sollte mich bei ihm melden?«
    Â»Nein«, sagte Mom. »Wenn es Neuigkeiten gibt, wird er dir Bescheid geben, bis dahin ist es besser, die Leitung frei zu halten, falls Jeff versucht, ihn zu erreichen.« Ihr Ton war mitfühlend. »Du kannst nur abwarten, Schatz. Ich weiß, wie schwer das ist. Meg ist in der Küche und macht sich was zu essen. Du und Neal, ihr solltet euch auch was holen.«
    Â»Ich hab keinen Hunger«, sagte ich.
    Â»Dann hilf mir doch beim Aufräumen. Dad hat ganz recht, du fühlst dich besser, wenn du dich beschäftigst.«
    Die nächste Viertelstunde verbrachte ich also damit, Schachteln, Papier und Schleifen zusammen zu sammeln und zu verbrennen. Dann nahm ich alle Geschenke, die ich an diesem Morgen bekommen hatte, und brachte sie nach oben in mein Zimmer. Normalerweise hätte ich diese Gelegenheit genutzt und mir alles noch mal genau angeschaut und mich darüber gefreut, aber heute stapelte ich sie aufs Regal und die Kommode. Dann stand ich einfach da und wusste nichts mit mir anzufangen. Ein langer Nachmittag lag vor mir. Bestimmt würde ich bis zum Abendessen erfahren, wo Jeff steckte. Er würde doch sicherlich zum Essen nach Hause kommen. Und wenn nicht, rief er bestimmt seinen Vater an. Wahrscheinlich war er irgendwo zu Besuch gewesen und hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass sich jemand Sorgen um ihn machen könnte. Aber …
    Aber wo in aller Welt sollte er Weihnachten hingegangen sein?
    So langsam bekam ich Kopfschmerzen, der Raum wurde mir plötzlich zu eng, also riss ich die Tür auf und trat hinaus auf den Balkon. Die salzige, kalte, feuchte Luft schlug mir mit Wucht entgegen, ich zitterte am ganzen Körper. Millionen Jahre schienen vergangen zu sein, seit die Septembersonne an ebendieser Stelle auf mich geschienen hatte, während kleine Boote über die seidige Fläche der sommerlichen See geschaukelt waren.
    Heute war das Meer grau und leer. Sogar jetzt, am Mittag, war die trennende Linie zwischen Meer und Himmel vom dichten Nebel verhüllt. Ich trat ans Geländer und schaute auf die glitschigen dunklen Felsen unter mir. »Du gehst doch nicht da raus, oder?«, hatte Jeff gefragt.
    Jetzt hätte ich ihm diese Frage gern gestellt. Hatte Jeff gestern Abend vielleicht versucht, auf diese Felsen hinauszugehen?
    Natürlich nicht , sagte ich mir. Jeff war ja nicht blöd. Er wusste genau, wie gefährlich das war. Er hatte mich schließlich selbst davor gewarnt.
    Aber … wenn er es nun doch versucht hatte? Ein stummer Schrei gellte in meinem Kopf. Was, wenn er es aus irgendeinem verrückten Grund doch getan hatte?
    Nein. Das konnte nicht sein.
    In diesem Moment entdeckte ich etwas, einen Farbfleck, wo nichts Farbiges hätte sein sollen. Etwas Rotes in dem trüben Schwarz, Braun und Grün, dort, unter mir … und ein wenig weiter links.
    Ich sah diesen Fleck. Und ich wusste Bescheid.
    Ohne die Balkontür zu schließen, rannte ich aus meinem Zimmer und die Treppen runter. Neal und ich hatten unsere Parkas im Flur liegen lassen. Ich schnappte mir meinen und hatte die Arme noch nicht in die Ärmel gesteckt, als ich schon nach draußen in den trostlosen Dezembernachmittag stürmte.
    Ich hetzte den Pfad am Haus entlang, der an den Felsen endete, und da fand ich sie: drei Bücher, ordentlich aufeinandergestapelt.
    Eines hatte einen roten Einband.
    Jeff hatte die Einladung also nicht vergessen, er hatte mich nicht im Stich gelassen. Er war gekommen, so wie er gesagt hatte – bis hierher und nicht weiter. Dann hatte er die Bücher abgelegt und war … wohin war er gegangen?
    Darauf konnte es nur eine Antwort geben. Langsam bewegte ich mich über die Klippe, den Blick auf die Bruchkante geheftet, unter der die Felsen lagen. Ich kannte die Stelle, an der Neal ausgerutscht war, und hielt darauf zu. Dabei rechnete ich mit dem Schlimmsten. Meine Beine waren schwach und ich hatte den metallischen Geschmack der Angst im Mund.
    Je weiter ich ging, desto glitschiger wurden die Felsen. Immer dichter wurde der Moospelz auf ihnen und das Wasser schäumte zwischen den Felsspalten auf. Eisiger Schaum wehte an meine Knöchel und das Tosen der Wellen war wie Donner in meinen

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