Komm zu mir, Schwester!
silbernen Geschenkpapier. Alle beugten sich vor und wollten sehen, was drinnen war.
»Zahnstocher!«, sagte Neal, der gelesen hatte, was drauf stand. »Das ist doch verrückt. Warum schenkt Helen dir Zahnstocher?«
»Das hat sie bestimmt nicht getan«, sagte Mom. »Sie hat die Schachtel nur benutzt, um etwas anderes darin zu verpacken.«
Der Deckel war mit Tesafilm zugeklebt. Ich ritzte mit dem Fingernagel daran entlang, der Deckel sprang auf und Lagen von weiÃem Seidenpapier kamen zum Vorschein. Mit der Fingerspitze schob ich sie zur Seite und sah etwas Blaues hervorblitzen.
»Ein Vogel!«, rief Megan.
Vorsichtig holte ich die türkisfarbene Figur aus der Schachtel. Sie hing an einer dünnen Kette aus silbernen Perlen.
»Eine Möwe?«, fragte Neal.
»Das ist ein Adler«, erklärte ich. Ich legte ihn auf meine Handfläche, damit der Rest der Familie ihn ansehen konnte. Der Vogel hatte die Schwingen weit ausgebreitet und den Kopf wie im Flug nach vorn gestreckt. Er schien nach unten zu schauen und die Erde unter sich genau zu beobachten.
»Das ist Indianerschmuck«, sagte Dad. »Und ganz bestimmt handgeschnitzt. Seht mal, wie fein die Federn an den Flügeln ausgearbeitet sind. Ob sie das wohl aus dem Südwesten mitgebracht hat?«
»Hat sie«, sagte ich. »Ein Navajojunge hat es für sie geschnitzt. Sie hat die Kette immer getragen. Ich verstehe nicht, wie sie sie verschenken kann.« Meine Augen brannten. »Ich hab dieses Geschenk nicht verdient. Wenn sie hier wäre, würde ich darauf bestehen, dass sie es wieder zurücknimmt.«
»Nein, würdest du nicht«, sage Mom. »Helen hat dir die Kette geschenkt, weil sie wollte, dass du sie trägst. Dass sie ihr so viel bedeutet hat, macht sie zu etwas ganz Besonderem. Komm, ich helfe dir â¦Â«
Ich legte mir die Kette um den Hals und nestelte an dem winzigen Verschluss herum. Moms geschickte Hände übernahmen, und sie hatte das Problem gerade gelöst, als das Telefon klingelte.
Sofort sprang Meg auf.
»Das ist Kimmie! Sie hat versprochen, sie ruft an, sobald sie ihre Geschenke ausgepackt hat!« Doch einen Moment später sagte sie: »Nein, ist er nicht. Nein, er ist nicht hier gewesen. Möchten Sie mit meiner Schwester sprechen?« Sie drehte sich zu mir um und hielt mir den Hörer hin. »Das ist Mr Rankin.«
»Jeffs Vater?« Als ich den Hörer nahm, stellte ich fest, dass meine Hand zitterte. »Hallo«, sagte ich. »Hier ist Laurie.«
»Pete Rankin«, dröhnte die mir nicht vertraute Stimme. »Ich versuche meinen streunenden Sohn aufzuspüren. Hast du eine Ahnung, wo er sein könnte?«
»Nein«, sagte ich. »Seit gestern hab ich Jeff weder gesehen noch mit ihm geredet.«
»Wann ist er denn gestern Abend bei euch aufgebrochen?«
»Gar nicht«, sagte ich. »Ich meine, er war gar nicht da.«
»Das ist aber komisch. Ich dachte, er wäre bei euch zum Abendessen.«
»Das war auch so geplant«, sagte ich. »Aber er ist nicht gekommen. Wir dachten, er hätte es vergessen.«
»Das hat er nicht vergessen«, sagte Mr Rankin. »Er hat sich über die Einladung gefreut. Das war das Letzte, was er zu mir gesagt hat, bevor ich aus dem Haus gegangen bin.«
»Warum ist er dann nicht gekommen?«
Das Ganze ergab einfach keinen Sinn.
»Ich hab Jeff gestern Nachmittag das letzte Mal gesehen«, sagte Mr Rankin. »Abends hab ich die letzte Fähre verpasst und drüben auf dem Festland bei Freunden übernachtet. Da hab ich versucht, Jeff anzurufen, aber es hat sich niemand gemeldet.«
»Und jetzt ist er nicht zu Hause?«
»Sieht ganz so aus. Ich bin erst vor zehn Minuten nach Hause gekommen. Keine Ahnung, wo er so früh hin sein könnte. Auf dem Handy ist er natürlich auch nicht zu erreichen. Und da dachte ich, er hätte dir vielleicht erzählt, was er vorhat.«
»Ich hab ihn gestern Abend nicht gesehen«, wiederholte ich benommen. »Ich weià nicht, wo er ist.«
»Na ja, kein Problem. Ich telefonier mal rum und schau, ob ich ihn finde. Wahrscheinlich ist er irgendwo zu Besuch. Gestern Abend war doch eine Party, oder? Ich hab gehört, wie Leute auf der Fähre davon geredet haben. Vielleicht war er da und ist dann mit irgendjemandem nach Hause gegangen.«
»Die Party war bei den Colesons«, sagte ich. »Aber ich bin mir ziemlich
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