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Komm zu mir, Schwester!

Komm zu mir, Schwester!

Titel: Komm zu mir, Schwester! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Duncan
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Körper, ich hörte seine Zähne klappern. Es gelang mir, mich gerade so weit zu drehen, dass ich mit meiner linken Hand seine Jacke aufknöpfen konnte. Dann knöpfte ich meine auf. Ich ließ die Arme in seinen Parka gleiten, schmiegte mich an seine Brust und spendete ihm meine Wärme. Sein Herz schlug kräftig, es war so nah, und es kam mir vor, als würde es uns beiden gehören. Dass er so heftig zitterte, machte mir Angst, denn so etwas hatte ich noch nie erlebt. Kein Wunder, dass sein Bein taub war! Sein Blutkreislauf musste praktisch zum Stillstand gekommen sein.
    Â»Wie ist das passiert?«, fragte ich. »Warum bist du hier rausgegangen?«
    Â»Das weißt du nicht?« Er wirkte ehrlich erstaunt.
    Â»Natürlich nicht. Woher denn.«
    Â»Na, warst du denn nicht da?«
    Â»Da?«, wiederholte ich verständnislos. »Wo denn? Wovon sprichst du?«
    Â»Du warst da. Draußen auf den Felsen.« Er machte eine Pause, dann sagte er ein wenig unsicherer: »Ich dachte, du wärst da gewesen. Irgendwie ist das alles ein bisschen nebelhaft. Ich erinnere mich, dass ich dich gesehen habe, sonst wäre ich ja wohl kaum auf die Felsen rausgegangen, oder?«
    Â»Verstehe«, sagte ich. »Du hast ein Mädchen auf den Felsen gesehen. Und sie sah genauso aus wie ich, nur ihre Augen waren anders.«
    Â»Ihre Augen hab ich nicht gesehen, so nah dran war ich nicht«, sagte Jeff. »Ich hatte den halben Weg bis zu ihr hinter mir, da bin ich gestürzt. Sie hat mich gerufen. Wegen der Brandung konnte ich ihre Stimme nicht hören, aber ich hab gesehen, wie ihre Lippen sich bewegt haben, und sie hat mich herangewinkt. Das warst du. Oder bin ich verrückt? Du musst es gewesen sein, aber wenn du es warst, dann hättest du doch Bescheid gewusst und wärst nicht auch noch gestürzt. Mein Kopf ist ganz wirr. Nichts ergibt mehr einen Sinn.«
    Â»Das war nicht ich«, sagte ich.
    Â»Dann gibt es jemanden, der genauso aussieht wie du. Dieses Mädchen, das Ahearn am Strand gesehen hat. Die ist es, hab ich recht?«
    Â»Sie heißt Lia.«
    Â»Ich bin so müde.« Er hatte den Faden verloren, ich spürte, dass er wegdämmerte. »Pass auf, dass ich nicht abstürze.«
    Â»Mach ich.« Ich hatte Angst, dass er einschlafen würde – und Angst davor, dass er es nicht tun könnte. Das Zittern hatte etwas nachgelassen, das hieß dann wohl, dass ihm wärmer war. »Hast du überhaupt geschlafen?«
    Â»Ich hatte Angst davor. Ich wusste, dass ich runterrollen würde. Glaubst du, du könntest mich festhalten, wenn ich jetzt schlafe?«
    Â»Eine Zeitlang«, sagte ich. »Dann wecke ich dich wieder.«
    Â»Nur ein paar Minuten«, murmelte er und war sofort eingeschlafen.
    Er schlief so tief, dass ich das Gefühl hatte, einen Toten im Arm zu halten, allerdings spürte ich seinen langsamen, stetigen Herzschlag. Ich war so hellwach wie schon lange nicht mehr und meine Gedanken rasten. Warum war ich nicht gleich dahintergekommen, dass Lia das getan hatte? Sie hatte mich doch gewarnt. Sie hatte mir doch befohlen: »Sag ihm, dass er nicht kommen kann! Sag ihm, dass er nie wieder hierherkommen soll!« Ich hatte nicht gehorcht – und das hier war meine Strafe. Jeff hatte recht, wir würden hier sterben. Und niemand würde uns je finden oder erfahren, was passiert war. Es würde eins dieser ungelösten Rätsel bleiben. Ich sah die Schlagzeile schon vor mir: »Zwei Teenager verschwinden von Insel vor der Küste New Englands.«
    Warum tat sie so etwas? Das war mir ein absolutes Rätsel. Die ganze Sache war so sinnlos. Es gab keinen Grund. Lia konnte nichts damit gewinnen, wenn sie mir das Leben nahm … und was Jeff anging … was hatte Lia mit ihm zu schaffen? Bis eben hatte er nicht einmal gewusst, dass sie existierte.
    Eine Stunde – vielleicht mehr, vielleicht weniger – verging. Dann, gerade als ich dachte, jetzt müsse ich Jeff wecken, rührte er sich und sagte: »Ich liebe dich.« Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört, aber schlaftrunken redete er weiter: »Nachts liege ich immer wach und stelle mir vor, wie es wäre, dich im Arm zu halten. Jetzt weiß ich es. Verrückt, nicht?«
    Â»Nein, das ist nicht verrückt«, sage ich.
    Â»Ist es doch, denn ich dachte, es wäre ganz toll. Und nun fühlt es sich an wie ein Abschied.«
    Â»Das ist kein Abschied.«

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