Komm zu mir, Schwester!
Ohren.
Ich sollte umkehren, das wusste ich, ich sollte Dad holen, aber ich ging weiter, denn ich wollte mich so schnell wie möglich dem stellen, dem ich mich nun zu stellen hatte.
Doch so weit bin ich nie gekommen.
Ein paar Meter vor der Bruchkante schien sich eine Leere aufzutun. Ich schrie â jedenfalls glaube ich, dass ich geschrien habe â, aber vielleicht habe ich es auch nicht getan, vielleicht war der Schrei nur in meinem Kopf. Meine einzige lebendige Erinnerung ist der Moment, in dem ich reglos in der leeren Luft hing. Dann stürzte ich, tauchte zwischen zwei weit auseinander liegenden Felsen ab und versank in den Grotten der Meerjungfrauen.
VIERZEHN
DIE GROTTEN DER MEERJUNGFRAUEN! Die waren Megs liebstes Thema, wenn sie abends das Schlafengehen ein wenig hinauszögern wollte.
»Da sind gigantische Räume«, erzählte sie uns dann, »von Phosphor erleuchtet, sodass alles darin grün schimmert. Die Wände sind aus Koralle und überall liegen Juwelen aus den Schatzkisten der Piraten herum. An allen Decken sind Spiegel, damit die Meerjungfrauen sich anschauen können, während sie sich die Haare kämmen.«
»Und was machen sie da unten, wenn sie mit ihren Haaren fertig sind?«, hatte ich sie einmal gefragt, denn ich hörte ihre kleine Zwitscherstimme so gern und wollte, dass sie ihre Geschichte noch ein wenig weiter ausspann.
»Sie singen viel«, sagte sie, »und ⦠und â¦Â« Sie zog die Stirn kraus. »Ehrlich gesagt, weià ich das nicht so genau, Laurie. Ich war ja nie da unten. Vielleicht darf eines Tages ja mal einer von uns dahin.«
Es ist seltsam, wie solche Gedanken in traumatischen Augenblicken auftauchen können, lächerliche Gedanken, die keinerlei Sinn ergeben. Vielleicht geht da irgendwas im Gehirn vor, das einen davor beschützt, den Verstand zu verlieren, vielleicht ist es eine Art Ablenkung von dem reinen Entsetzen, die so lange währt, bis man die Kraft findet, mit der Situation umzugehen. Ich habe das Bewusstsein nicht verloren. Ich bekam alles mit, den Schmerz und die Dunkelheit, den eklig fischigen Geruch von Dingen, die nie das Tageslicht gesehen hatten. Eigentlich hätte ich an den Tod denken müssen, stattdessen dachte ich an Meerjungfrauen.
Jetzt weià ich es. Ich werde Meg erzählen können, was sie den ganzen Tag treiben.
Ich schloss die Augen, damit mir die Dunkelheit nicht so fremd vorkam. Ich hätte das alles sogar für einen Traum halten können, erst recht, als eine kalte Hand meine Wange berührte und eine Meerjungfrau mich mit leiser Stimme fragte: »Lebst du noch?«
Ich versuchte »Ja« zu sagen, aber zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass ich das Wort nicht vom Kopf in den Mund und über die Lippen bekommen konnte. Vielleicht bin ich tot , dachte ich. Aber wenn das so wäre, würde nicht alles so wehtun.
Versuchsweise machte ich die Augen auf und merkte, dass doch nicht alles pechschwarz war. Von irgendwoher kam ein schwaches Licht. Mit groÃer Anstrengung drehte ich den Kopf und stellte fest, dass ich einen gezackten Ausschnitt vom bedeckten Himmel sah.
Da durch, durch dieses Loch bin ich gefallen , dachte ich. So wie Alice ins Kaninchenloch gefallen ist . Nur war hier kein Kaninchen mit von der Partie. Ich bin niemandem gefolgt. Was hatte ich eigentlich gemacht? Ich hatte über den Rand der Klippe geguckt, weil ich nachschauen wollte ⦠nachschauen wollte â¦
»Lebst du?«, wurde ich wieder gefragt. Und ich kannte diese Stimme.
Dieses Mal schaffte ich es zu antworten.
»Ja, Jeff. Ich lebe.«
Schweigen. Dann sagte er ungläubig: »Laurie?«
»Ja.«
»Laurie. Bist du das wirklich?« Die Hand erkundete mein Gesicht, bewegte sich über die Stirn runter zur Nase, berührte meine Lippen. »Das sind Halluzinationen, oder? Ich wusste, dass es bald so weit sein würde. Und was kommt als Nächstes? Rosa Elefanten?«
»Das ist nicht witzig«, sagte ich matt. »Ich bin gestürzt. Ich bin auf die Felsen geklettert. Du hattest ja gesagt, dass ich das nicht tun sollte. Ich bin in eine Spalte gefallen. Eigentlich müssten wir doch tot sein, oder?«
»Wahrscheinlich«, sagte Jeff. »Mein Gott, Laurie, ich hab mich hier unten so einsam gefühlt. Es war so kalt. Bist du das wirklich?« Die Frage klang wie ein Schluchzen.
Ich schaffte es, nach seiner Hand zu greifen und sie festzuhalten.
»Ich kann
Weitere Kostenlose Bücher