Komm zu mir, Schwester!
mir lag die reglose Gestalt eines dunkelhaarigen Mädchens, das zu schlafen schien. Mit geringem Interesse schaute ich auf sie hinab. Das ist mein Körper , sagte ich mir, aber er hätte auch sonst wem gehören können, ich brachte keine groÃen Gefühle für ihn auf. Dann war ich höher aufgestiegen, befand mich über Cliff House und schaute runter aufs Dach, es ging noch höher hinauf, sodass ganz Brighton Island unter mir lag. Ich war über dem Wasser, dann über den Wolken, und ich sah, wie die Sonne sich im Osten über den Horizont schob. Ich kam schneller voran als sie. Wenn ich weiter steigen würde, wäre ich höher als die Sonne, viel höher, würde mich schneller bewegen, weiter entfernen, bis ich ein Teil der groÃen, unfassbaren Ewigkeit werden würde, die hinter allem lag, was war.
Aber das war nicht mein Ziel.
Ich wollte zu Helen.
Ich hatte überlegt, wie ich sie finden könnte. Ich hätte mir keine Gedanken machen müssen. Es passierte einfach. Genauso selbstverständlich wie ich meinen Körper verlassen hatte. Unwillkürlich wurde ich dahin gezogen, wo ich sein wollte.
Ich befand mich in einem Krankenhausflur. Einem, auf dem es nicht besonders ruhig zuging. Ein Schwung Krankenschwestern kam herein, ein anderer ging. Leute kontrollierten Krankenblätter und suchten Regenmäntel.
»Grauenhaftes Wetter, da drauÃen«, sagte eine Frau, die hereinkam. Eine andere, die gerade nach drauÃen gehen wollte, erwiderte: »Was kann man denn erwarten im Januar?«
Ich war mitten unter ihnen, aber niemand konnte mich sehen. Mein Vater hatte mir einmal von einem Comic erzählt, den er als Junge gelesen hatte. Der hatte ihm den Anstoà gegeben, sich für Fantasy und Science-Fiction zu interessieren.
»Der Comic hieà âºDie Unsichtbare Scarlet OâNeilâ¹Â«, hatte er gesagt. »Die Geschichte handelte von einem Mädchen namens Scarlett, die einen Nerv an ihrem Handgelenk drücken und sich damit unsichtbar machen konnte. Dann konnte sie rumlaufen und Leute belauschen, Streiche spielen und Verbrecher fangen. Ich fand das faszinierend. Mein eigenes Handgelenk war ganz blau, weil ich auf der Suche nach diesem Nerv pausenlos daran herumgedrückt hatte.«
Jetzt war ich die Unsichtbare Scarlett. Unglaublich, dass diese Leute mich nicht sehen konnten, wo ich doch so hundertprozentig da war!
Ich bewegte mich den Flur entlang, schaute durch offene Türen in die Zimmer von Fremden. Die meisten schliefen, aber einige waren wach. Ein Mann schaute aus dem Fenster, bei einer alten Frau lief der Fernseher. Ich war so damit beschäftigt, nach einem roten Schopf auf einem weiÃen Kissen Ausschau zu halten, dass ich die beiden Pfleger erst bemerkte, als sie schon vor mir waren. Ich machte einen Satz zur Seite, aber nicht schnell genug, um dem Bett auszuweichen, das sie schoben. Die Ecke traf mich an der Hüfte und fuhr mitten hindurch. Ich spürte gar nichts, und die Männer setzten ihren Weg mit unverminderter Geschwindigkeit fort und schoben das Bett den ganzen Flur entlang und durch die Schwingtür am anderen Ende.
Einen Augenblick später lief eine Schwester auf mich zu. Dieses Mal machte ich keine Anstalten, ihr auszuweichen, und wir gingen durch einander hindurch, als wäre eine von uns Luft.
Eine Tür links zog mich an. Ich hätte nicht sagen können, warum das so war, aber ich wusste ohne irgendeinen Zweifel, dass das Zimmer dahinter Helens Zimmer war.
Endlich hatte ich sie gefunden! Ich ging durch die Tür und stellte mich neben ihr Bett.
Helen lag auf dem Rücken, die Arme lang ausgestreckt. Ihre Augen waren geschlossen und sie war dünner, als ich sie in Erinnerung hatte. Sie atmete langsam und regelmäÃig, und unter den Sommersprossen war ihr Gesicht blass. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, Verbände ⦠ein Beatmungsgerät â¦, aber ich war überrascht, weil sie so normal wirkte. Sie hätte auch einfach schlafen können, statt in einem Koma zu liegen, das schon Wochen andauerte.
Es tut mir so leid , dachte ich. Helen, es tut mir so leid! Ich bin es gewesen, die Lia in dein Leben gebracht hat. Du hast versucht, mich zu warnen. Es ist nicht fair, dass du leiden musst.
»Helen, du hast Besuch!«
Die Stimme ertönte so unerwartet hinter mir, dass ich einen Schreck kriegte und unwillkürlich genauso schuldbewusst zusammenzuckte wie ich es als
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