Komm zurück, mein dunkler Bruder
erschrecken, das für die Dunkelheit lebte, ja eigentlich nur zum Leben erwachte, wenn die Klingen gezückt wurden?
Und dies zog einen neuen, höchst unwillkommenen Gedanken nach sich: Falls dieses hypothetische Etwas den Passagier verjagt hatte, war es ihm ins Exil gefolgt? Oder schnüffelte es nach wie vor auf meinen Spuren? Befand ich mich ohne jegliche Möglichkeit zur Verteidigung in Gefahr – ohne die Möglichkeit zu merken, ob eine tödliche Bedrohung hinter mir lauerte, ehe mir ihr Speichel auf den Nacken tropfte?
Es heißt immer, neue Erfahrungen seien eine gute Sache, aber diese war die reine Folter. Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger verstand ich, was mit mir geschah, und desto mehr schmerzte es.
Nun, es gab eine Kur gegen Elend, und das war gute harte Arbeit an etwas vollkommen Sinnlosem. Ich wirbelte zu meinem Computer herum und begann.
Innerhalb weniger Minuten lagen Leben und Geschichte von Dr. phil. Gerald Halpern offen vor mir. Selbstverständlich war es ein wenig komplizierter als Halperns Namen bei Google einzugeben. Zum Beispiel stellte sich das Problem verschlüsselter Gerichtsakten. Ich benötigte volle fünf Minuten, um sie zu öffnen. Aber als ich es geschafft hatte, war es die Mühe wert, und ich dachte:
Schau an, schau an
… Und weil ich im Augenblick innerlich so tragisch vereinsamt war und es niemanden gab, der meine nachdenklichen Bemerkungen hörte, sagte ich es auch laut: »Schau an, schau an«, sagte ich.
Die Unterlagen über die Pflegeunterbringung wären schon interessant genug gewesen – nicht, weil ich wegen meiner eigenen elternlosen Vergangenheit eine Verbundenheit mit Halpern empfand. Ich war mehr als adäquat mit Heim und Familie in Person von Harry, Doris und Deborah versorgt gewesen, anders als Halpern, der von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gewandert war, bis er schließlich an der Syracuse University landete.
Wesentlich interessanter jedoch war eine Akte, die niemand ohne Vollmacht, richterlichen Beschluss oder eine Steintafel direkt aus der Hand Gottes öffnen durfte. Und nachdem ich sie ein zweites Mal gelesen hatte, war meine Reaktion noch tiefsinniger. »Schau an, schau an, schau an«, sagte ich, leicht verunsichert von der Art, in der die Wörter von den Wänden meines leeren kleinen Büros widerhallten. Und da profunde Enthüllungen vor Publikum immer wesentlich dramatischer sind, griff ich nach dem Hörer und rief meine Schwester an.
Innerhalb weniger Minuten zwängte sie sich in mein Büro und setzte sich auf den Klappstuhl. »Was hast du entdeckt?«
»Dr. Gerald Halpern hat EINE VERGANGENHEIT «, eröffnete ich ihr und betonte die Großbuchstaben, damit sie nicht über den Tisch sprang und mich umarmte.
»Ich wusste es«, sagte sie. »Was hat er angestellt?«
»Es ist nicht so sehr das, was er getan hat, sondern vielmehr das, was ihm angetan wurde.«
»Spar dir das Geschwurbel«, erwiderte sie. »Was ist es?«
»Zunächst einmal ist er anscheinend eine Waise.«
»Komm schon, Dex, zur Sache.«
Ich hob die Hand in dem Versuch, sie zu beruhigen, aber es funktionierte eindeutig nicht so besonders, denn sie begann mit den Knöcheln auf die Tischkante zu trommeln. »Ich versuche, dir ein genaues Bild zu vermitteln, Schwesterherz.«
»Schneller«, sagte sie.
»Na gut. Die Jugendbehörden des Staates New York haben sich um Halpern gekümmert, seit man ihn unter einer Autobahn entdeckte, wo er in einem Karton hauste. Man machte seine Eltern ausfindig, die unglücklicherweise kurz zuvor einem unerfreulichen Akt der Gewalt zum Opfer gefallen waren. Es scheint ein äußerst wohlverdienter Akt der Gewalt gewesen zu sein.«
»Was zur Hölle soll das bedeuten?«
»Seine Eltern haben ihn an Pädophile verkuppelt.«
»Jesus«, fluchte Deborah, ganz offensichtlich leicht schockiert. Das war selbst für Miamis Verhältnisse ein wenig heftig.
»An diesen Teil kann Halpern sich nicht erinnern. In seiner Akte steht, dass er bei Stress Erinnerungsverluste erleidet. Das ergibt Sinn. Die Erinnerungsverluste sind vermutlich eine durch das wiederholte Trauma bedingte Reaktion«, sagte ich. »So etwas kann passieren.«
»Ach, Mist«, fluchte Deborah, und innerlich applaudierte ich ihrer Eleganz. »Demnach vergisst er Scheiße. Du musst zugeben, dass das passt. Das Mädchen versucht ihn wegen Vergewaltigung dranzukriegen, und er steht sowieso schon unter Druck wegen dieser Festanstellung – und so steigt der Stresspegel, und er bringt das Mädchen
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