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Komm zurück, mein dunkler Bruder

Komm zurück, mein dunkler Bruder

Titel: Komm zurück, mein dunkler Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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um, ohne davon zu wissen.«
    »Einige Punkte noch«, sagte ich, und ich gebe zu, dass ich das dramatische Moment vielleicht ein wenig mehr genoss, als notwendig gewesen wäre. »Zunächst einmal der Tod seiner Eltern.«
    »Was ist damit?«, fragte sie, ganz offensichtlich nicht an theatralischen Genüssen interessiert.
    »Ihre Köpfe waren abgeschlagen. Und das Haus wurde in Brand gesteckt.«
    Deborah richtete sich auf. »Scheiße.«
    »Du nimmst mir das Wort aus dem Mund.«
    »Gottverdammt, Dex, das ist großartig«, jubilierte sie. »Wir haben ihn am Arsch.«
    »Nun«, sagte ich, »es passt sicherlich ins Muster.«
    »Todsicher«, sagte sie. »Demnach hat er seine Eltern umgebracht?«
    Ich zuckte die Achseln. »Man konnte nichts beweisen. Hätte man es gekonnt, wäre Halpern eingewiesen worden. Das Ganze war so brutal, dass niemand glauben konnte, dass ein Kind es getan hatte. Aber man ist ziemlich sicher, dass er dort gewesen ist und zumindest gesehen hat, was passierte.«
    Sie musterte mich eindringlich. »Und was ist daran falsch? Glaubst du immer noch, er hätte es nicht getan? Ich meine, ist das wieder eine deiner Eingebungen?«
    Es tat weh, mehr als es hätte sollen, und ich schloss einen Moment die Augen. Noch immer nichts außer Dunkelheit und Leere. Meine berühmten Eingebungen beruhten natürlich auf den Dingen, die der Dunkle Passagier mir zuflüsterte, und in seiner Abwesenheit blieb mir nichts, womit ich weitermachen konnte.
    »In letzter Zeit hatte ich keine Eingebungen«, gestand ich. »Aber an diesem Fall stört mich irgendetwas. Es ist einfach …«
    Ich schlug die Augen auf, und Deborah starrte mich an. Zum ersten Mal an diesem Tag lag in ihrem Gesichtsausdruck etwas anderes als überschäumende Fröhlichkeit, und einen Augenblick dachte ich, sie würde mich fragen, was das bedeutete und ob bei mir alles in Ordnung sei. Ich hatte keine Ahnung, was ich in diesem Fall erwidern sollte, da ich nie über den Dunklen Passagier gesprochen hatte. Die Vorstellung, etwas so Intimes zu teilen, war äußerst beunruhigend.
    »Keine Ahnung«, sagte ich schwach. »Es scheint einfach nicht richtig.«
    Deborah lächelte sanft. Mir wäre wohler gewesen, wenn sie mich angeschnauzt hätte, ich solle mich zum Teufel scheren, aber sie lächelte, streckte ihre Hand über den Tisch und tätschelte meine. »Dex«, sagte sie weich, »die Indizien sind mehr als ausreichend. Der Hintergrund passt. Das Motiv trägt. Du gibst zu, dass es nicht eine deiner … Eingebungen ist.« Sie legte den Kopf schräg und lächelte immer noch, was mein Unbehagen steigerte. »Alles ist in Ordnung, Bruderherz. Was immer an dir nagt, schieb es nicht auf diesen Fall. Er hat es getan, wir haben ihn geschnappt, und das war’s.« Sie ließ meine Hand los, ehe einer von uns beiden in Tränen ausbrechen konnte. »Aber ich mache mir ein bisschen Sorgen um dich.«
    »Mir geht’s gut«, versicherte ich, was selbst in meinen Ohren gelogen klang.
    Deborah musterte mich einen langen Moment, dann stand sie auf. »In Ordnung«, sagte sie. »Aber ich bin für dich da, falls du mich brauchst.« Und sie drehte sich um und ging hinaus.
    Irgendwie schleppte ich mich durch die graue Suppe des restlichen Tages und schaffte abends die ganze Strecke zu Rita, wo die Suppe sich in ein Aspik sensorischer Deprivation verwandelte. Ich bekam weder mit, was wir zum Abendbrot aßen, noch, was irgendjemand sagte. Das einzige Geräusch, auf das zu lauschen ich mich überwinden konnte, war der Klang, den der Dunkle Passagier bei seinem Hereinrauschen verursachte, und dieses Geräusch blieb aus. Und so schwamm ich auf Autopilot durch diesen Abend und ging schließlich zu Bett, nach wie vor nur eine leere Hülle; Dexter, der Dumpfe.
    Es überraschte mich außerordentlich, doch Schlaf ist nichts, das Menschen automatisch zufällt, nicht einmal Halbmenschen wie dem, in den ich mich gerade verwandelte. Das alte Ich, Dexter der Dunkelheit, hatte perfekt geschlafen, ohne jede Mühe; einfach hinlegen, Augen schließen und denken: »Eins, zwei, drei, los!« Und fertig, Tiefschlaf.
    Aber das neue Dextermodell hatte nicht so viel Glück.
    Ich wälzte mich hin und her, ich befahl meinem bedauernswerten Ich ohne jede Verzögerung, sofort einzuschlafen, alles ohne Erfolg. Ich konnte nicht schlafen. Ich konnte nur mit weit aufgerissenen Augen daliegen und mich fragen, warum.
    Und wie sich die Nacht dahinschleppte, so auch die furchtbare, trostlose Selbstbeobachtung. Hatte ich mich mein

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