Kommissar Joakim Hill - 01 - Die zärtliche Zeugin
Detail einzuprägen.
Joakim Hill sah sich in dem Ladenlokal um. Das Bild von der Autowaschanlage auf dem Fernsehmonitor war genauso unbeweglich und grau wie der Tote. Die Bürste hing müde und leblos dort draußen, und die seitliche Platzierung der Kamera gab dem Bild etwas Schiefes. Alles an diesem Abend hatte etwas Absurdes.
Nichts rührte sich. Die Lüftung surrte monoton und die blaugrüne Digitalanzeige der Kasse leuchtete grell. Über das Regal mit den Zigaretten schien sich ebenfalls niemand hergemacht zu haben. Es war ordentlich nachgefüllt und bot seinen jetzt noch cellophanumhüllten Genuss allen preis, denen der Sinn danach stand.
Alles war ganz normal – außer der Tote auf dem Fußboden.
Die Tür.
Plötzlich merkte Hill, dass die Kundentoilette einen Spalt weit offen stand. Licht brannte nicht, aber die Tür war nur angelehnt.
Er merkte, wie seine Nackenhaare sich sträubten, und vermied es, nochmals in diese Richtung zu blicken. Vorsichtig näherte er sich Sahlman, der vor dem Zeitungsständer innegehalten hatte.
Wortlos stieß ihn Hill mit dem Ellbogen an, aber Sahlman ließ sich nicht stören.
»Sauerei! Hast du das gesehen?«, sagte Sahlman entrüstet und total entgeistert, während er Hill eine Doppelseite des letzten Exemplars vom Expressen hinhielt. »Michael Jackson hat einen Sohn bekommen! Unglaublich!«
»Pst«, wollte ihn Hill zum Schweigen bringen.
»Doch, ich bin da ganz deiner Meinung«, fuhr Sahlman fort, der gar nicht hingehört hatte. »Über solche Perversitäten sollte man nicht zu laut sprechen.«
Joakim Hill begriff, dass er auf sich allein gestellt war. Vollkommen allein. Gleichzeitig griff er nach seiner Dienstwaffe, einer gut geölten Sig-Sauer, Kaliber 9 mm, die in einem Lederhalfter seitlich unter seiner Jacke steckte.
Scheinbar zerstreut schlenderte er durch den Tankstellenshop. Er tat so, als würde er das Angebot an Schlossenteisern, Videos und fettarmer Magarine prüfen. Als er fast am Ende des Ladenlokals angekommen war, lag die Waffe bereits in seiner Hand. Ihr Gewicht gab ihm Sicherheit, denn er wusste selbst im Schlaf, wie man sie benutzte.
Jetzt stand er an der Kühltheke für Milchprodukte, den Rücken fest gegen die Glastür gedrückt. Er holte ein paar Mal tief Luft und bereitete sich darauf vor, auf die Toilettentür zuzuspringen.
»Meine Güte, kaum zu glauben, was Leute alles für Geld tun!«
Joakim erstarrte mitten in der Bewegung.
Sahlman war jetzt noch mehr in seine Zeitung versunken. Er hielt sie hochkant auf Armeslänge von sich weg und las die mittlere Doppelseite.
»Alles, für Geld zeigen sie wirklich alles! Meine Güte! Hast du gesehen, ein solches Luder!«
Er versenkte sich wieder in seine Zeitung, und Hill atmete aus. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Er bereitete sich ein weiteres Mal vor.
Mit einem letzten Atemholen umrundete er die Ecke der Kühltheke und öffnete gleichzeitig die Tür der Kundentoilette mit einem Tritt.
Die Pistole hielt er vorschriftsmäßig mit beiden Händen in Brusthöhe; die Beine hatte er gespreizt.
Die Toilette war leer.
Sahlman klappte die Abendzeitung zu und starrte ihn an.
»Was machst du da eigentlich, Hill? Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«
Hill antwortete nicht und überließ das Elend dem Gerichtsmediziner und den Männern von der Spurensicherung, die gerade eingetroffen waren. Er öffnete die Tür und trat auf den hell erleuchteten Platz mit den Zapfsäulen.
Die Frühlingsnacht in dieser nordwestlichen Ecke Schonens war angenehm lau, vielleicht jedoch eine Spur feuchtkalt.
Die Feuchtigkeit kam wie gewöhnlich vom Sund her, sie trieb über die Stadt, über die mittelalterliche Burg Kärnan und weiter zum Buchenwald am Pålsjö. Bei den riesigen Bäumen drehte sie bei und setzte ihren Weg zu den modernen Industriegebieten und Wohnvierteln im Osten fort.
Berga war eines dieser weitläufigen Industriegebiete, die jetzt mitten in der Nacht vollkommen ausgestorben dalagen. Hier befand sich die Tankstelle, zu der sie gerufen worden waren, und noch weiter außerhalb der Stadt lagen die hemmungslos verführerischen Shoppingcenter, ehe die Autobahn die Menschen schließlich auf dem Lebensnerv der Region aus Asphalt und Beton fernen Zielen entgegenführte. Richtung Süden, Norden oder Osten, wie es den Wünschen der Fahrer entsprach.
Das nie verstummende Brausen der E 4 und E 6 nach Stockholm, Göteborg und Malmö drängte sich Hill auf und vertrieb durch seine unerschütterliche
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