Kommissar Morry - Ich habe Angst
Uhr. Er hatte also noch über eine halbe Stunde Zeit.
Er schlenderte an den Kiosken vorüber, kaufte sich Obst, Zigaretten und ein paar Sandwiches. Dann trat er an ein Schnellbüfett heran und trank noch eine heiße Hühnerbrühe. Dicht nebenan befand sich eine große elektrische Uhr. Der Minutenzeiger machte in exakten Abständen einen kleinen Sprung. Jack Havard beobachtete ihn mit gespanntem Interesse. Als die Zeiger auf 9.20 Uhr standen, ging er durch die Sperre und begab sich auf Bahnsteig vier, wo der Vorortszug nach Mala Green fahrbereit in der Halle stand. Schnurstracks ging er auf den letzten Wagen zu und trat in das Abteil ein. Hier sollte Lydia Brandon sitzen, dachte er, während er die Coupetür öffnete. Vielleicht ist diese Dame nicht so zugeknöpft wie Esther Harras. Vielleicht kann ich ihr ein wenig die Zunge lösen. Eine offene Beichte könnte mich ein großes Stück vorwärts bringen. Er blickte sich rasch in dem engen Abteil um Zwei dicke, gutmütige Männer hockten in den grünen Kunstlederpolstern und unterhielten sich über das miese Herbstwetter. Neben ihnen kauerte eine schwindsüchtige Person, die wie eine pensionierte Lehrerin aussah. Und ganz links, unmittelbar am Fenster, eine junge Dame von etwa fünfundzwanzig Jahren. Sie trug ein unauffälliges Reisekostüm, das elegant geschnitten war und sie sehr gut kleidete. Das Gesicht wirkte herb und abweisend, war aber dennoch von eigenwilliger Schönheit. In den dunklen Augen mischten sich Trotz und Traurigkeit, die roten Lippen waren zu einem schmalen Strich verkniffen. Das ist sie, dachte Jack Havard mit einem erleichterten Atemzug. So ungefähr habe ich sie mir vorgestellt. Alban Lampard scheint genau zu wissen, wen er sich für seine Pläne aussucht. Mit dieser Frau hat er sicher einen guten Fang getan. Der Zug setzte sich ratternd in Bewegung. Er war schlecht gefedert wie die meisten Vorortszüge. Kreischend holperte er über die Weichen. Er hielt beinahe an jedem Gartenzaun. Nach jeder halben Meile kam eine Station. In Peckton Grove stiegen die beiden dicken Männer aus. An der übernächsten Haltestelle entfernte sich auch die schwindsüchtige Person mit dünnem Hüsteln. Neue Fahrgäste stiegen nicht zu. Jack Havard war allein mit Lydia Brandon im Coupe. Er rückte ein wenig zur Seite, daß er ihr genau gegenüber saß. Schon nach wenigen Sekunden merkte er, daß sie unter seinen forschenden Blicken unruhig wurde. Sie schlug die Augen nieder und wandte das Gesicht ab. Nervös nestelten ihre Hände an der gelben Ledertasche.
„Sie sind mein Bewacher, nicht wahr?" fragte sie nach einer Weile. Ihr Lächeln war bitter und ihre Worte klangen spröde. „Sie sollen auf mich aufpassen, damit ich mich nicht aus den Maschen des raffiniert gefädelten Netzes befreien kann. Ich weiß es. Man hat mir gesagt, daß Sie mich begleiten werden. Ich kenne sogar Ihren Namen. Sie sind Henry Boswell. Stimmt's?" Jack Havard sagte weder ja noch nein. Er zündete sich hastig eine Zigarette an, um seine Erregung zu verbergen. Ungeduldig fieberte er den nächsten Minuten entgegen.
„Wie lautet Ihr Auftrag?" fragte er mit erzwungener Gleichgültigkeit. Lydia Brandon leierte wie eine folgsame Schülerin die Weisungen herunter, die sie von Alban Lampard empfangen hatte.
„Ich werde mich bei Mr. Norbert Scott vorstellen", murmelte sie mit tonloser Stimme. „Er bewohnt ein einsames Haus an der Parkside in Mala Green und wird dort nur von einer alten Haushälterin betreut."
„Weiter!" ziscftelte Jack Havard, „Sprechen Sie doch weiter!"
„Mr. Scott war früher ein hohes Tier bei der Marine und schreibt jetzt seine Memoiren, wie das neuerdings modern geworden ist. Er sucht eine Sekretärin, die seine Schreibarbeiten erledigt. Um diesen Posten werde ich mich bewerben."
„Gut", sagte Jack Havard. „Sie haben sich alles genau eingeprägt. Wie geht es weiter?"
„Mr. Scott ist siebenundfünfzig Jahre alt. Jedes Kind in Mala Green weiß, daß er hinter allen Schürzen her ist und eine besondere Schwäche für schwarzhaarige Frauen hat. Für Frauen, die bedeutend jünger sind als er. Er marht sich lächerlich mit seiner Leidenschaft. Er will noch einmal heiraten. Und das alles hat Alban Lampard genau ausgeforscht."
„Sie hoffen also, die Stelle zu bekommen."
„Ja", sagte Lydia Brandon herb. „Ich glaube es bestimmt."
„Und dann?" fragte Jack Havard gedehnt. „Was geschieht, wenn Sie Ihre Stelle angetreten haben? Wird es beim Schreiben bleiben? Oder
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