Kommissar Morry - Ich habe Angst
biedere Fuhrleute, Eisenbahner und Handwerker. Und neben dem geheizten Kachelofen hockten ein paar große Katzen und dösten schläfrig in den Herbstvormittag hinein. Der Wirt hantierte geschäftig an seinem Zapfhahn herum. Jack Havard wählte einen Eckplatz am Fenster, von wo aus er das Anwesen Norbert Scotts gut überblicken konnte. Grübelnd starrte er auf die dunklen Fensterscheiben. Die hohen Tannen ließen nie einen Sonnenstrahl in die Räume des Hauses dringen.
„Schöner Besitz", sagte Jack Havard anerkennend zu dem fetten Wirt, der dienernd einen Krug Bier vor ihn hinstellte. „Wem gehört denn das Haus?"
Der Wirt ließ sich augenblicklich am Tisch nieder und freute sich, einmal gründlich über diesen eingebildeten Marinefritzen herziehen zu können, der mit seinen ewigen Weibergeschichten den ganzen Ort verrückt machte.
„Dieser Kerl hat sich noch nie in meiner Wirtschaft blicken lassen", knurrte der biedere Gastwirt empört. „Er wird keine Zeit dazu haben, denke ich. Man weiß ja, wie er es treibt. Keine Schürze ist vor ihm sicher. Jedes Dienstmädchen ist ihm davongelaufen. Nur eine alte Haushälterin hat es bei ihm ausgehalten."
„Ein seltsamer Mensch", murmelte Jack Havard kopfschüttelnd. „Warum heiratet er denn nicht, wenn er so toll auf Frauen ist? Es wird sich schon eine finden, die dieses prächtige Haus gern mit ihm teilen möchte. Als ehemaliger Admiral dürfte er auch eine ganz schöne Pension beziehen."
„Trotzdem wird keine anbeißen, fürchte ich", brummte der Wirt abfällig. „Er will ja nur junge Dinger um sich haben. Und welches Mädchen, Frage ich Sie, Sir, will schon mit einem alten Knacker wie Norbert Scott Hochzeit feiern? Hier in Mala Green wird er keine finden. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort."
Jack Havard trank einen Schluck Bier und bestellte etwas zu essen. Dabei behielt er ständig die graue Villa im Auge. Er beobachtete sie unablässig. Dauernd hatte er das peinigende Gefühl, es müßte etwas Schreckliches passieren. Aber in Wirklichkeit ereignete sich gar nichts. Nach einer Stunde trat Lydia Brandon aus dem Gartentor. Sie ging langsam. Scheu blickte sie nach allen Seiten. Ihr hübsches Gesicht war jetzt noch blasser als zuvor. Zögernd und widerstrebend kam sie auf das Gasthaus zu. Sie blickte argwöhnisch durch die Fenster. Gehemmt und unsicher trat sie nach einer Weile ein. Sie ging auf den hintersten Tisch zu und nahm wortlos neben Jack Havard Platz.
„Was war denn?" fragte er gespannt. „Reden Sie doch! Haben Sie die Stelle bekommen?"
„Ja", sagte Lydia Brandon tonlos. „Natürlich! Ich kann schon heute mit Schreibarbeiten beginnen, wenn ich will."
„Werden Sie das tun?"
„Ja."
Jack Havard blickte gedankenvoll auf sein Bierglas nieder. Er fühlte sich verdammt unbehaglich. Konnte man denn wirklich nichts tun, um diesem törichten Mädchen die Augen zu öffnen?
„Was ist dieser Mr. Scott für ein Mann?" fragte er forschend. „Welchen Eindruck haben Sie von ihm?"
Lydia Brandon zuckte mit den Achseln. „Er war sehr nett und höflich. Er wird mich auch für meine Arbeit sehr gut bezahlen. Überdies bekomme ich ein hübsches Zimmer in der Mansarde. Die Haushälterin schläft nebenan. Sie brauchen sich also keine Sorgen um mich zu machen, Mr. Boswell." Das klang spöttisch und feindselig. Alles an ihr war eisige Abwehr. Sie wollte weg. Man sah es ihr deutlich an.
„Sie werden sicher mit mir nach London zurückfahren", sagte Jack Havard. „Wenn Sie hier wohnen wollen, brauchen Sie doch Wäsche und Garderobe. Ich werde Ihnen beim Umzug behilflich sein."
„Danke!" sagte Lydia Brandon frostig. „Das ist nicht nötig. Ich bleibe hier. Mr. Scott wird alles für mich erledigen. Er holt die Sachen mit seinem Auto ab."
Jack Havard zahlte mißmutig seine Rechnung. Nur mit Mühe konnte er seinen Ärger und seine Enttäuschung verbergen. Schade um den verlorenen Tag. Er hatte so gut
wie nichts erreicht. Er war jetzt genauso klug wie zuvor.
„Darf ich Sie wenigstens öfter besuchen?" fragte er verdrossen.
„Nur, wenn es Ihnen Alban Lampard befiehlt", sagte Lydia Brandon und ging mit hastigen Schritten von ihm weg.
4
Esther Harras fühlte sich nicht recht glücklich, als sie ihren Wagen nachts um elf Uhr vor dem Green Park stoppte. Sie stieg aus, sperrte die Tür ab und ging zaudernd in den herbstlichen Park hinein.
Was will er denn schon wieder, dachte sie beklommen. Hat er einen neuen Auftrag für mich? Soll ich für ihn wieder die
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