Kommissar Morry - Terror um Mitternacht
angewiesen, sich eine Existenz zu schaffen.
In der Zeitung hatte sie eines Tages eine Annonce gelesen. Irgend jemand wünschte aus ,Altersgründen' eine Pension am Meer aufzugeben. Da war sie nach hier gereist, in diese trostlose, einsame Gegend, wo man tagein, tagaus das Rauschen des Meeres hörte, und wo eine Handvoll von Dauergästen mehr oder weniger gelassen auf den Tod wartete. Denn die Pension am Meer war nichts anders als ein verkapptes Altersheim. Die düstere Gegend war kaum dazu geeignet, vergnügungssüchtige Touristen anzulocken. Sie hatte die Pension gekauft.
Viel später hatte sie erfahren, daß der Vorbesitzer, ein alter, abergläubischer Grieche, schon seit Jahren vergeblich versuchte, einen Käufer zu finden. Niemand wollte die auf einer Klippe über dem Meer gelegene Pension erwerben. Dabei war sie gar nicht einmal so übel . . . solide gebaut und trotz des hohen Alters in einem respektierlichen Zustand.
Chloe hatte nicht nur die fünf Dauermieter, sondern auch Käthe, das schwerhörige Mädchen übernommen. Zum Glück beanspruchte Käthe keinen hohen Lohn. Schweigsam und tüchtig ging sie ihrer Arbeit nach. Sie sah ein bißchen unheimlich
aus. Ein Augenfehler ließ ihr rechtes Auge starr und gläsern erscheinen. Chloe hatte das Mädchen noch niemals beim Lachen ertappt. Die Pensionsbewohner tuschelten, Käthe hätte einmal ein Verhältnis mit einem pensionierten Major gehabt, ebenfalls einem Dauermieter. Einmal, als die beiden auf dem Balkon herumalberten, hätte sie dem Major ungewollt einen so unglücklichen Stoß gegeben, daß er über das Balkongitter in die Tiefe gestürzt sei.
Chloe hielt das für dummen Klatsch. Es stimmte zwar, daß man vor Jahren — wie sie von dem Griechen erfahren hatte — den Major zerschmettert am Fuße des Felsens aufgefunden hatte, aber die Polizei hatte die Ansicht vertreten, daß er einfach lebensmüde gewesen sei. Chloe hielt diese Version für wahr. Die Pension am Meer, selbst ein düsterer, schwermütiger Ort, war durchaus dazu angetan, seine Bewohner in eine Atmosphäre beständiger Beklemmung zu ziehen.
Ja, Kathe lachte nie. Sie hatte recht damit. Was gab es denn hier zum Lachen?
Umgeben von dem beständigen Grollen des Meeres und von der feuchten, salzigen Luft, die sich nur schwer außerhalb der Zimmer halten ließ und die man ständig auf den Lippen schmeckte, war das Leben eine Aufeinanderfolge trüber, freudloser Tage, die durch keinen Lichtblick erhellt wurden.
Chloe war sich darüber im klaren, daß der Pensionskauf eine dumme, höchst nutzlose Investition gewesen war. Immerhin war sie als ,Hotelbesitzerin' vor dem Verhungern geschützt. Die Dauergäste bezahlten zwar nicht sonderlich viel, aber doch recht pünktlich. Darüber hinaus war kein Vorteil erkennbar. Ich bin sechsundzwanzig, dachte sie, als sie mit dem Leuchter in der Hand durch das Haus ging und wie hypnotisiert ihren großen, sich dehnenden und wieder zusammenziehenden Schatten an der Wand betrachtete. Sechsundzwanzig! Dabei lebe ich mit meinen fünf Friedhofsanwärtern schlimmer und weltabgeschiedener als eine Zuchthäuslerin. Ich bin eingesperrt mit Leuten, die auf den Tod warten, und ich arbeite mit einem Mädchen zusammen, dessen farbloser Mund nur ein verkniffener, schweigsamer Strich ist.
Ich, Chloe Sanderson. Sie dachte an Roger, an den Mann, der ihr diesen Namen gegeben hatte, und sie zitterte, weil sie wieder einmal feststellen mußte, daß die Erinnerung an ihn schwächer wurde. Was blieb ihr denn noch, wenn die Erinnerung an ihn wie eine billige Fotografie verblaßte! „Die Verzweiflung“, sprach sie ungewollt und blieb stehen, erschreckt vom Klang der eigenen Stimme.
Sie war im Erdgeschoß angelangt, in der dunklen Halle, wo alles noch so war wie vor einem halben Jahrhundert. Die Plüschportieren, die abgetretenen Teppiche, der falsche Marmor. Es roch muffig. Wie in einem Grab, dachte sie. Bin ich nicht ein Gespenst, das durch seine eigene Gruft wandert?
„Roger!" rief sie leise, halb erstickt und sehnsuchtsvoll aus.
Plötzlich erstarrte sie. Als wäre der Wunsch erhört worden, sah sie plötzlich einen Schatten hinter den Milchglasscheiben der Haustür. Der Leuchter in ihrer Hand begann zu zittern.
„Roger“, murmelten ihre Lippen. Träumte sie? Jetzt war es schon kein Schatten mehr. Es waren klar erkennbare Konturen ... die Umrisse eines großen, schlanken Mannes.
In der nächsten Sekunde schrillte die Türglocke.
Chloe riß sich zusammen. Die Glocke
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