"Kommst du Freitag"
nicht, die dir gerade ein Annuitätendarlehen gewährt hat. Also neuer Job, neues Glück, neue Adresse für die Wochenendliebe.
Paul brauchte von Leipzig aus zwei Stunden zu unserem Hof, ich von Hamburg aus gute vier. Der Vorteil: Dort zu sein war immer wie ein Mini-Urlaub. Der Nachteil: Montag.
Montags stand ich lange vor dem ersten Hahnenschrei auf, fuhr mit dem Auto 4.30 Uhr los und bis zum Berliner Ostbahnhof, wo in jenen Jahren die Züge gen Norden starteten. Mein Auto ließ ich auf einem Parkplatz stehen, der (noch) kostenlos war, dafür aber unsicher und weit weg. Fast nie gelang es mir, nicht rennen zu müssen, um rechtzeitig am Zug zu sein. Das ist um halb sechs durchaus eine Folter. Je mehr Hast nötig war, desto lauter krakeelten die Rollen am Koffer. Nach einer Weile nahm ich das Geräusch verstärkt wahr und lernte es zu hassen.
Der ICE Berlin-Hamburg am Montagmorgen ist ein Love-Train. Die darin sitzen, sie tun es alle: Lieben hier und arbeiten da. Bald erkennt man einander wieder, schaut aber geflissentlich aneinander vorbei. Bloß keine überflüssigen Worte, nicht um die Zeit, nicht aus diesem Anlass. Am Look lässt sich die gesellschaftliche Zugehörigkeit der Mitreisenden leicht ablesen. Maßanzüge und handgenähte Lederschuhe weisen auf hohe Stellungen in Verlagen und Kanzleien hin, sorgfältig verwaschene Markenkapuzenpullis und nie gesehene Edel-Sneaker auf alternde Jungs der Musikindustrie, dazwischen die rahmenlosen Brillen und gegelten Igelhaarschnitte der Airbus-Ingenieure und die sorgfältig blondierten Bad-Hair-Day-Frisuren der kleinen und großen Lifestyle-Redakteurinnen der Hamburger Verlage.
Der Zug war voller Pendler, von denen es einige verstanden, sofort in tiefen Schlaf zu fallen. Sie konnten sich meines Neids sicher sein, denn ich verstand mich auf diese Technik nicht. Ihre Fahrkarten legten die Schläfer so hin, dass der Schaffner sie nicht wecken musste bei der Kontrolle; die meisten Schaffner taten das aber trotzdem. Schon allein die Furcht vor dem Groll in mir, wenn sie das bei mir gewagt hätten, hielt mich vom Einschlafen ab.
Die Fahrt dauerte zu jener Zeit so lang, wie in der Zwanzigerjahren des alten Jahrhunderts, zwei Stunden und vierzig Minuten. Ich versuchte, Zeitungen und Bücher zu lesen, was mit rosinen-kleinen, brennenden Augen äußerst schmerzhaft war, abgesehen davon, dass das Gelesene keinen Eingang in mein Hirn finden wollte, denn das wollte schlafen! Schlafen! Schlafen! In seinem gestörten Biorhythmus schüttete es aber leider nicht die entsprechenden Hormone aus. Milla prophezeite mir: „Du lernst das, glaub mir, ich weiß, wovon, ich spreche.“
Milla pendelte seit zwei Jahren nach München. Das zweite Angebot für einen Traumjob in einer anderen Stadt hatte sie nicht mehr abgelehnt. Carsten besuchte sie selten. Kam er doch, regnete es in München Bindfäden, und in Berlin schien die Sonne. Er wollte, wie einst aus Hamburg, jetzt nicht mehr aus Berlin weg und ließ das jeden wissen, vor allem Milla, die sich darum nicht auf München einließ. Sie fuhr oder flog zu ihm, so oft es ging. Ihre Rückflüge gingen montags selten nach sechs Uhr. Milla konnte im Flugzeug sofort wegdösen, sie träumte dabei aber wirr von der Zukunft. Sie liebte Carsten immer noch, fragte sich jedoch allmählich, warum.
Ich schaffte mir Ohropax und eine Schlafbrille an und nickte tatsächlich nach einem halbem Jahr Übens für ein halbes Stündchen pro Zugfahrt ein. Der Schlaf hatte allerdings die Qualität eines Fiebertraums. Es hätte nur noch gefehlt, dass ich den Kopf hin- und herwarf und Unverständliches lallte. Den Montag, selbstredend ein besonders intensiver und langer Tag in dem Magazin, überstand ich wie im Trance und nur stark geschminkt. Am liebsten hätte ich mir gleich Augen auf die Lider gemalt, um die echten darunter schließen zu können.
So einen Montag beschloss ich stets mit Magenschmerzen vom vielen Espresso und von dem Aspirin gegen den dumpfen Schmerz hinter meiner Stirn.
Sie, das Phantom. Er, das Phantom
Jonas war der Erste, der mich „das Phantom“ nannte. Er meinte es nicht ganz ernst, aber ein bisschen. Der junge Banker war damals aus Heidelberg nach Leipzig gezogen und kannte Paul, den Kölner in Leipzig, seit zwei Jahren, so lange, wie ich aus der Stadt weg war. Jonas war einer der ersten Stammgäste seiner ersten Kneipe und auf dem Wege, ein echter Freund zu werden. Mich hatte er aber noch nie gesehen.
Aus Maria, einer Kollegin in der
Weitere Kostenlose Bücher