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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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dessen Rücken sie beim Sprechen rieb. Sie hielt Lobreden auf seine Lehrbegabung, seine Beliebtheit bei den Studenten, seine Fähigkeit, ihre Sprache zu sprechen . Ihre Stimme rutschte unmerklich ab, als sie, unvermeidlich, zu seiner Krankheit kam und noch einmal beteuerte, was für ein schmerzlicher Verlust es für sie alle sei. Behutsam erklärte sie ihm sodann, sie glaubten, es gebe keine andere Wahl, als jemand anderen für das zwanzigste Jahrhundert zu suchen, der seine Stelle übernehmen könnte.
    Samson nickte ermutigend. Er machte es ihr leicht. Er sagte ihr, sie könnten sein Büro räumen, er wolle nichts von den Sachen haben. Er bat nur darum, dass Anna in der Wohnung, einer Unterkunft für Mitglieder der Fakultät, bleiben und er seinen Bibliotheksausweis behalten dürfe. Marge wirkte erleichtert, froh, dass ihr eine Szene erspart geblieben war. Samson machte ihr Komplimente zu ihrer Brosche, einem vergoldeten Pfau mit Strassfedern.
    «Ob Sie’s glauben oder nicht, ich habe sie aus Las Vegas.»
    «Ich war dort», sagte Samson im Aufstehen.
    «Ja», sagte Marge Kallman und begann Formulare abzuzeichnen.
    «In der Wüste», fügte Samson hinzu.
     
    Das war Lavells Lieblingsteil der Geschichte. «Warum Nevada?», fragte er, im Raum umherwandernd wie ein Detektiv auf der Spur eines Verbrechens. Er antwortete sich selbst: «Weil es perfekt ist.» Weil man eben in die Wüste geht, wenn das Gehirn auf null schaltet, verbrannt, ausgeblasen, unbewohnt ist. Man geht zur Tarnung hin. Rein instinktiv, wie ein wildes Tier.
     
    Er stellte die Besuche bei Lavell ein. Er hatte ihm nichts mehr zu sagen, ebenso wenig wie Marge Kallman oder sogar Anna. Er lag still in der unterirdischen Dunkelheit einer fremden Wohnung und tastete nach der Kamera. Er öffnete die Klappe auf der Rückseite, knipste die Lampe an, und im nächsten Augenblick war das belichtete Bild von Anna nicht mehr existent.
    In die Bibliothek ging er nur, um Bücher zu holen oder zurückzugeben. Er trug ganze Stapel nach Hause. Er hielt einen Vorrat an Bargeld für den chinesischen Lieferjungen bereit, der gegen die Fahrtrichtung durch die Straßen radelte, um ihm die schnellste Mitternachtspizza der Welt zu bringen. Er las kreuz und quer, ohne jeden Plan. Er hatte kein Programm. Am liebsten waren ihm Bücher über Astronomie und Reisen in den Weltraum, aber er mochte auch Biographien von Filmstars oder großen Führern; ohne eigene Vergangenheit war er fasziniert von der anderer Leute. Er las People und manchmal den Rolling Stone. Er las über das Ende des Kalten Krieges. Er las sämtliche Romane zu seinem Seminar über zeitgenössische Literatur, dessen Lehrplan er in Lanas Regalen fand. Er las über das Leben von John Glenn, über das Leben von Juri Gagarin, seinen Flug durch den Weltraum, wo vorher nur ein Hund gewesen war. Gagarin, der, zur Erde zurückgeschwebt, davongetragen werden musste, so sehr hatte die Schwerelosigkeit seinen Körper geschwächt.
    Anna rief ihn an, um über Versicherungsangelegenheiten und Bankkonten zu reden. Manchmal rief sie auch an, um nur seine Stimme zu hören.
    «Geht’s dir gut?», fragte Samson.
    «Ja», sagte Anna, obwohl sie gedämpft klang.
    «Wie steht’s bei der Arbeit?», fragte er.
    «Alles in Ordnung. Ganz gut, glaube ich.» Schweigen. «Gibt’s was Neues? Etwas, worüber du reden willst?»
    Er zermarterte sich den Kopf, was er bloß sagen könnte, um sie vor dem nächsten gescheiterten Wortwechsel zu bewahren. «Ich benutze den Fotoapparat. Ich gehe spazieren und mache Bilder.»
    «Gut», sagte sie. «Das ist eine gute Sache.»
    Sie regelten ihre Finanzen. Die medizinischen Behandlungskosten hatten ein Loch in ihre Ersparnisse gerissen, und was Anna als Sozialarbeiterin verdiente, war nicht viel. Samson nahm so wenig er brauchte und ließ ihr den Rest. Er wollte, dass es ihr gut ging, und er wollte das Geld sowieso nicht. Er hätte nicht gewusst, was er damit machen sollte.
    Sie gab ihm Frank, der verdrießlich ins Telefon hechelte.
     
    Wenn er gelegentlich hinausging und durch die Stadt spazierte, nahm er tatsächlich die Kamera mit. Er legte einen neuen Film ein, spulte vor und machte Aufnahmen von Dingen, die ihn interessierten, Brücken, Baustellen, Wracks, obwohl er die Fotos nie entwickelte. Er bewahrte die gelben Filmdosen in einer Plastiktüte auf. Lanas Nachbarin, eine Astrologin namens Kate, die ihre Kunden während der Mittagspause oder spätabends empfing, hielt ihn für einen Profi. Er
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