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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Sorte Mann, bei der die Leute zweimal hinschauen, unentschlossen, ob sie ihn anstarren sollen oder nicht. Was eigentlich sind die Kriterien fürs Gaffen, fragte sich Samson. Extreme: unglaubliche Schönheit oder preiswürdige Hässlichkeit; Verunstaltungen; gewalttätiges oder lärmendes Gebaren. Lauter unbedachte, offensichtliche Gründe, die Augen aufzureißen. Aber die nächstliegenden Kandidaten zum Anstarren schienen subtiler zu sein: diejenigen, die in aller Ruhe mit diplomatischem Fingerspitzengefühl die Autorität der Norm herausfordern. So verhielt es sich mit Ray, der jetzt Samsons Tasche nahm und ihn mit elegantem Schwung und sanften Stupsern wie ein Blindenhund zum Parkplatz führte. Draußen auf dem Highway lenkte er das weiße Cabrio, tief in seinem Schalensitz, ebenso selbstsicher und geschickt.
    Anfangs sprachen sie nicht. Ray hatte ihm das Geld für den Flug überwiesen, aber es galt als ausgemacht, dass keine Verpflichtung bestand. Er konnte es sich noch anders überlegen und bei der nächsten roten Ampel aus dem Auto steigen. Ray würde enttäuscht sein, aber er würde nicht versuchen, ihn aufzuhalten. Zwang interessierte ihn nicht. Ray war durch und durch ehrlich; er wollte Freiwilligkeit, sagte er, Leute, die die Größe des Projekts verstanden. Er wollte Gläubige. Solche, die alles fallen lassen würden, um hinaus in die Wüste zu gehen.
    Samson war sich nicht sicher, warum er hergekommen war. Nach Rays zweitem Anruf hatte er mit Lavell gesprochen, der Ray als brillant bezeichnete, einen Mann, dessen Arbeit den Radius der Wissenschaft erweitere. Samson mochte Rays Stimme, die erregte Dringlichkeit seiner Anrufe. Er sei Mediziner, mit irgendeinem Forschungsprojekt, das war alles, was er gesagt hatte – er brauche Samsons Hilfe.
    Sie fuhren schneller, vorbei an schlanken Palmen und pastellfarbenen Häusern mit Gittern vor den Fenstern. Das Rauschen des Windes machte es schwierig, etwas zu sagen. Ray schaltete weich in den nächsten Gang, einen schmalen Ring mit himmelblauem Stein auf dem kleinen Finger. Einstweilen saß Samson reglos da, eine Hand vor der Brust, den Daumen in den Gurt gehängt, die andere auf dem ramponierten Umschlag mit den CTs und MRTs auf seinem Schoß, den Kernspinbildern seines Gehirns, die Ray ihn gebeten hatte mitzubringen.
    Allmählich ging die Sonne unter, und das rostig orange Licht spiegelte sich an den Autos. Sie bogen von der Schnellstraße ab und begannen, durch die Hügel hinaufzufahren, mit brummendem Motor, als Ray den Wagen um Haarnadelkurven steuerte, vorbei an Grünflächen, die wie Kunstrasen aussahen, an den verdunkelten Fenstern herrschaftlicher Villen und an Toren aus Zedernholz, an Autos, Booten, Motorrädern und, was weiß man schon, Ufos, die unter Planen überwinterten. Es war Mitte März, die Luft warm, erfüllt von Eukalyptus, und Samson atmete tief den Geruch seiner Kindheit ein. Eukalyptus und die leichte Würze des Pazifiks. Eine seltsame Traurigkeit kroch in einen Winkel seines Inneren. Das Licht nahm ab, es fing eben an zu dämmern, und verfrüht schalteten sich die Scheinwerfer einer mexikanisch gefliesten Villa an, ein paranoider Schutz gegen die Nacht.
    «Was für eine gottverdammte Stadt», sagte Ray bewundernd, als sie um eine Kurve bogen, die den Blick auf das Gefunkel der angehenden Lichter im Tal freigab. «Egal, wie oft ich das sehe, ich staune immer neu. Vor allem, wenn ich aus der Wüste komme.»
    «Waren Sie gerade dort?»
    «Bis gestern; abends kam ich zurück, wollte ja hier sein, um Sie abzuholen. Wie war das noch: zum ersten Mal in L.A.?»
    «Ich glaube, als Kind war ich ein- oder zweimal hier. Jedenfalls habe ich das Gefühl , schon hier gewesen zu sein.»
    «Gehen Sie oft ins Kino? Das treibt nämlich sogar Leute um, die in L.A. zu Hause sind: das nagende Gefühl, einen Teil der Stadt schon mal gesehen zu haben, genau so, aus derselben Perspektive.» Ray bog in eine Einfahrt und nahm eine Fernbedienung aus dem Handschuhfach. Die Torflügel schwangen auf, und es ging bergan.
    Samson sah Filme für sein Leben gern. Er hatte immer sein ganzes Taschengeld dafür gespart. Seine Mutter hatte ihn zum Kino gefahren und wieder abgeholt, weil sie selbst nur Dokumentationen oder Monumentalfilme mochte, wiederbelebte Geschichte auf der Silberleinwand. Gern erduldete sie Kribbeln und Krämpfe in den Beinen für die Herrlichkeit, Le Chagrin et la Pitié oder Spartacus an einem Stück zu sehen. Sein Geschmack war vielseitiger: Ihm war

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