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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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genommen und es gut sichtbar vor sich auf den Tisch gestellt. Sobald jemand in seine Richtung sah, wählte er sorgfältig ein kreidiges Stückchen aus und ließ es auf der Zunge zergehen. Während der Pause erzählte er einer Gruppe kleiner Mädchen, sein Vater sei Astronaut und trainiere in Cape Canaveral für die Schwerelosigkeit. In Wahrheit war sein Vater verschwunden, als er drei Jahre alt war. Seine Mutter hatte ihm nie erklärt warum, und Samson stellte sich vor, dass er eines Tages hinaus-, um die Ecke und einfach weitergegangen sei. Dass er sein Leben abgestreift habe wie altes Zeug, auf einer öffentlichen Toilette abgetaucht und in einem brandneuen weißen Anzug, ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht, wieder herausspaziert sei. Eine Plastiktüte im nächsten Abfalleimer versenkt und sich beschwingten Schritts pfeifend auf den Weg gemacht habe. Samson hatte sich diese Szene so oft ausgemalt, dass er sie im Lauf der Jahre nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden konnte. Seine Mutter weigerte sich, über den Vater zu sprechen. Alles, was Samson als Junge erfahren hatte, war, dass er irgendwo lebte. Er glaubte, eines Tages würde er zu ihm zurückkommen: Es würde klingeln und er hinrennen, die Tür aufmachen, und dann stünde er da wie Cary Grant in einem blendend weißen Anzug. Als Samson im Krankenhaus langsam begriffen hatte, in welcher Lage er sich befand, war einer seiner ersten Gedanken gewesen: Sein Vater sei während der Jahre, die er vergessen hatte, irgendwann aufgetaucht, und jetzt gebe es keine Möglichkeit mehr, sich Klarheit darüber zu verschaffen. Gegenüber Anna hatte er sich das Thema gespart, weil er sicher war, er würde ihr nie davon erzählt haben, ebenso wenig, wie er sein tiefstes Geheimnis in Leuchtschrift bekannt gegeben hätte.
    Vor einer Woche hatte er mit Anna das Museum of Natural History besucht. Sie waren durch die dunklen Säle an gläsernen Schaukästen mit Grunzochsen und Bisons vorbeigelaufen, an grauen Wölfen, die über dem Schnee in der Luft schwebend durch blaues Zwielicht segelten. Es war Montag gewesen und das Museum fast menschenleer, bis auf ein paar kleine Horden Kinder, deren Stimmen hin und wieder wie die Schreie Überlebender zu ihnen drangen. Sie hatten sich ihren Weg an Dinosaurierknochen und Schmetterlingen vorbei gebahnt, ohne viel zu reden, und kurz vor dem Ausgang waren sie durch einen kleinen Raum mit einer Sonderausstellung über den von der New York Times gesponserten Zeitkapsel-Wettbewerb spaziert.
    Der preisgekrönte Entwurf – zwei Tonnen Edelstahl mit nach innen gefalteten Fächern, wie eine Origamiblüte – war auserwählt, das nächste Jahrtausend im Innenhof des Museums zu stehen. Erst im Jahr 3000 sollte die Kapsel geöffnet werden, dann würden die Menschen der Zukunft in den mit Argongas gefüllten Fächern das von Thermalgel umhüllte Glück der Heutigen finden: eine Hasenpfote, eine Injektionsnadel, ein Hufeisen, Fertignahrung. Verschiedene Länder hatten Objekte gestiftet, wie zur Linderung einer seltsamen, hybriden Katastrophe: ein Jo-Jo, kirchliche Nachrichten, Penicillin.
    Samson war eine Runde an den Wänden entlanggegangen, um das Kleingedruckte zu lesen, Berichte über verlorene Zeitkapseln, Zeitkapseln in zugemauerten Schwimmbädern, die im Jahr 8113 geöffnet werden sollten, vergrabene Grammophone, Sonden mit verkupferten Schallplatten an Bord, die andere Planetensysteme erreichen und den Aliens, falls sie ihnen in die Hände fielen, die ersten Takte von Beethovens Cavatina vorspielen sollten.
    Er ging wieder ins Wohnzimmer und nahm das Adressbuch. Er blätterte es nach dem Namen seines Vaters durch, und als er zum Ende kam, ohne ihn zu finden, klappte er es zu und warf es auf den Tisch. Es war eine anheimelnde, kindische Vorstellung, zu glauben, sein Vater wäre je zu ihm zurückgekehrt. Er war fortgegangen. Aus welchen Gründen auch immer war er eines Tages aufgestanden und zur Tür hinausgegangen, und das Leben, das er jetzt führte – wenn er überhaupt am Leben war –, beruhte auf einer wohl überlegten Entscheidung, die Samson nicht einbezog.
    Er tastete nach dem Telefon und wählte die Auskunft. Er fragte nach Lanas Nummer, die vom Tonband eingespielt wurde. Wie viele Leute mochten schon wegen ihrer Nummer angerufen haben, wunderte er sich, dass man sie auf Band aufgenommen hatte?
    Das Telefon klingelte fünf- oder sechsmal, bevor sie sich mit verschlafener Stimme meldete.
    «Hallo, tut mir Leid, dich zu
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