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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Unterbrechung. Da ist jemand gekommen, ich muss mich beeilen. Trotzdem, ich will unbedingt mit Ihnen sprechen. Was meinen Sie, könnte ich in den nächsten Tagen wieder anrufen? Reden wir dann?»
    «Ja, sicher.»
    «Freut mich, dass ich Sie erreicht habe. Halten Sie sich warm.» Ray Malcolm legte auf.
    Samson stand am Fenster und betrachtete die Schneeflocken, wie sie, jede einzelne eine unnachahmliche, irreduzible Realität, durch das Laternenlicht fielen. Einen Moment machte er sich Sorgen, der Anruf habe mit seiner Gesundheit zu tun und der Doktor habe schlechte Nachrichten über den Tumor, der irgendwie nachwachse. Aber das Ergebnis der letzten Untersuchungen, die Lavell vor zwei Monaten vorgenommen hatte, sollte endgültig gewesen sein. Er schlug sich den Gedanken aus dem Kopf. Wenn etwas wäre, hätte Lavell ihn persönlich kontaktiert.
    Er zog sich aus und ging ins Bett, wo er lange wach lag. Er stellte sich vor, das Bild seines ruhenden Körpers würde über dem Times Square ausgestrahlt. Er lag so still, dass die, die ihn von unten sahen, nicht merkten, dass er lebte, bis er sich plötzlich streckte und ins Dunkle rollte.

Zwei

A us der Luft sieht es aus, als wäre System dahinter: erkennbare Formationen, Netzwerke auf dem Wüstengrund. Kreuzschraffuren aus Graten und Klüften. Vom Nullpunkt sich auffächernde Linien. Der Flugzeugschatten gleitet über Becken und Plateaus. Frostgebilde zwischen den Doppelfenstern der Maschine, jedes geometrische Kristall ein Beweis für die totgeborene Schönheit reiner Mathematik. Endlich taucht der Einschnitt einer Straße auf, so tief wie ein in Schiefer eingelassenes Fossil. Eine Straße mit ungewissem Ziel, allein um der, wenngleich langsamen, Bewegung willen, durch meilenweites Nichts. Durch das System. Das erste Raster ist das seltsamste, die Geometrie eines besseren Lebens, in den Wüstenboden geätzt: identische Häuser einer Plansiedlung rings um den Kern eines Swimmingpools aufgefächert. Erst eins, dann ein zweites, bis die Wüste mit Straßen gepflastert und mit zahllosen Pools übersät ist wie mit einem hingestreuten blauen Kartenspiel.
     
    Samson wartete eine halbe Stunde an der LAX-Flughafeninformation und beobachtete die Ankunftstafel, wie sie die nächste Landung registrierte, die nächste vermiedene Katastrophe. Wieder strömten blasse Passagiere von dem statisch geladenen Rollband, einen Ausdruck von Erleichterung und Entschlossenheit im Gesicht. Schließlich wanderte er zum Zeitungskiosk und blätterte die Hochglanzmagazine durch – nackte Taillen, Numerologie, Diättipps. In regelmäßigen Abständen blickte er zum Informationsstand hinüber, hielt Ausschau nach Ray Malcolm.
    Er las gerade den Rolling Stone , als er seinen Namen in einem Atemzug mit den vermissten, unter Jetlag leidenden Ausländern, den verschmähten, im letzten Moment doch wieder zurückgerufenen Liebhabern und den verlorenen Kindern, die von gebührenfreien Telefonen anriefen, über Lautsprecher hörte: «Mr.   Greene, Mr.   Samson Greene, bitte melden Sie sich bei der Flughafeninformation.» Gebeugt spähte er um den Ständer und sah einen Mann, auf den die Beschreibung passte, die Ray Malcolm von sich gegeben hatte. Es war noch nicht zu spät, sich umzudrehen und durch die Schiebetüren hinauszugehen. Der Doktor spähte in die Menge. Samson blätterte ein paar Seiten weiter, brachte die Zeitschrift an die Kasse und bezahlte, dann ging er auf ihn zu wie ein Verfolgter, der sich ergibt. Als Malcolm ihn erblickte, breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht.
    «Ein Wahnsinn, dieser Verkehr. Ich dachte schon, Sie hätten mich aufgegeben», sagte er, wobei er die Hand ausstreckte, die Stimme so klar, wie sie am Telefon geklungen hatte, die Hand spröde und papieren.
    «Dr.   Malcolm?»
    «Sagen Sie einfach Ray.»
    Ray Malcolm wirkte alterslos. Er hatte volles weißes Haar und eine gebräunte, ledrige Haut, erstaunlich glatt, nur um die Augen hatten sich tiefe Krähenfüße gebildet. Er war klein, sogar geschrumpft, bewegte sich aber mit federnder Elastizität, als hätte er die Gelenke eines Jüngeren. Er trug eine feine Leinenhose und ein durchgeknöpftes Hemd mit offenem Kragen und aufgeschlagenen Ärmeln, die eine klotzige silberne Uhr enthüllten, wie Taucher sie tragen, wasserdicht bis dreihundert Meter Tiefe. Samson schätzte ihn auf zirka fünfundsechzig, wäre jedoch nicht schockiert gewesen, wenn Ray sich als Fünfzig- oder Achtzigjähriger entpuppt hätte. Er war die
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