Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Person geschrumpft war, hatten sie preiswürdige Ausmaße angenommen.
Max musterte den Pfleger, dann ließ er seinen Blick schläfrig zu Samson wandern.
Onkel Max hatte Kinder geliebt und sie immer mit kleinen Tricks oder Witzen zum Lachen gebracht, aber er hatte nie eigene gehabt, weil seine Frau durch eine Kinderkrankheit unfruchtbar geworden war. Hier saß nun im Morgenrock, was von dem Mann übrig war, der, als er gehört hatte, wie Samson in den höchsten Tönen vom Angeltrip seines Vaters mit Hunter Froubuck schwärmte, aus Stöcken, ja, aus Stöcken, zwei Angelruten bastelte, bespannt mit einer Angelschnur mit einem Blechhaken am Ende, und Samson mitnahm an ein kleines brackiges Gewässer. Sie hatten nur Aale gefangen.
«Erkennen Sie den jungen Mann?», fragte der Pfleger und zog in spöttischer Erwartung die Augenbrauen hoch. Es folgte eine drückende Pause, in der Samson halbwegs darauf gefasst war, der blasierte Kerl würde gleich die Arme ausbreiten und in lyrischem Bariton verkünden: «Max Kleinzer, das ist IHR Leben! », während die Alten in ihren Rollstühlen mit den Fingern trommelten.
«Wen?», fragte Max, die Stimme gedämpft und unmenschlich, wie der ferne Ruf einer Eule.
Samson trat vor, ein unbeholfener Versuch, den Pfleger auszuschalten.
«Onkel Max, ich bin’s, Sammy. Sammy Greene, dein Neffe. Erinnerst du dich?»
«Sammy Greene», tönte der Pfleger, packte Max’ Rollstuhl an den Griffen und schob ihn zum Fenster hinüber. Samson trottete hinterher. Max hielt die Augen stur geradeaus.
«Sammy?», sagte er mit brüchiger Stimme. «Sicher, ich erinnere mich.» Der Pfleger wirbelte Max herum und stellte ihn mit dem Rücken zum Fenster, sodass die Flut des Abendlichts von hinten hereinströmte und die Ohren wie Lampen erleuchtete.
«Sammy Greene! Ta-daaa!», echote der Pfleger erneut. Dann drehte er sich um und verschwand den Gang hinunter, ehe Samson ihn mit dem Kinnbacken eines Esels erschlagen konnte.
Der alte Mann hielt die Hände steif im Schoß gefaltet, als wartete er vor einer Bühne auf den Vorhang. Sie saßen schweigend da und sahen einander an.
«Was sagst du, wer du bist?», fragte Max schließlich.
«Sammy. Beths Sohn.»
«Wer?»
«Beths Sohn.»
«Edison?»
«Dein Großneffe. Samson. »
Max starrte ihn verständnislos an.
«Erinnerst du dich?», fragte Samson.
«Kann ich nicht behaupten.»
Er blickte Max forschend ins Gesicht, überlegte, was sein Großonkel wohl sehen mochte. Er erinnerte sich an die ersten Tage in New York nach seiner Rückkehr, als Anna ihm im durchsichtigen, ungetrübten Licht jener klaren Frühlingstage wie ein fernes, unteilbares Ganzes erschienen war, wie ein Vogel, der sich unter dem Himmel in einen dunklen Punkt verwandelt. Sogar ihr Wunsch, er möge sich an sie erinnern, schmälerte diese elementare Selbstbegrenzung nicht. Aber im Lauf der Tage löste sich die Erscheinung auf. Er bemerkte die Kleinigkeiten, aus denen sie bestand: das leise knallende Geräusch, das sie mit den Lippen machte, wenn sie im Begriff war, etwas Schwieriges zu sagen, oder wie sie beim Fernsehen mit den Haarspitzen spielte oder ihren Kaffee trank, ohne den Löffel aus dem Becher zu nehmen. Bis er sie schließlich nur noch als Sammlung solcher Fragmente wahrnehmen konnte.
Max’ Gesicht blieb reglos, registrierte nichts.
Ungefähr ein Jahr nachdem Samson das Foto im Arbeitszimmer seines Großonkels gefunden hatte, war ein Mann aus Max’ Kindheit in Deutschland zu Besuch gekommen. Ein kleiner Mann mit einem dünnen, hohen Lachen und dichtem Haar, das vor Pomade glänzte. Samson war sich sicher, ihn noch nie gesehen zu haben, aber der Fremde umarmte ihn mit großer Herzlichkeit. Er roch nach Kiefern, nach einem Ort inmitten dichter Wälder. «Kennst du mich nicht mehr?», fragte er mit einem derben Akzent. Alle Blicke richteten sich abwartend auf Samson. Der Mann lächelte erwartungsvoll. Eine ganze Minute verging, aber Samson konnte keine Erinnerung heraufbeschwören. Als er spürte, wie ihm Schamesröte ins Gesicht schoss, drehte er sich um und floh aus dem Zimmer. Er hatte sich geweigert, den Mann während seines restlichen Aufenthalts auch nur anzusehen.
Samson lächelte schwach und zog einen Stuhl heran.
«Wie geht’s dir, Onkel Max?»
Max schien erleichtert, das Thema zu wechseln. «Gut. Ich kann nicht klagen, wirklich. Kann noch essen. Ein schrecklicher Fraß, aber ich kann essen. Wenn man bedenkt, all diese Jahre, in denen Clara – kennst du Clara,
Weitere Kostenlose Bücher