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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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schaute in sein Schlafzimmer, sah Chuck mit irre zerzaustem Haar im Morgenmantel seiner Mutter über eine Schreibmaschine gebeugt. Er streifte durch Hinterhöfe, die einen süßlich-fauligen Geruch verströmten. Er lungerte vor Jollie Lambirds Haus herum, beobachtete sie, während sie schlief. In seiner stillen Wache flog er über kurz geschorenen Rasen und ruhende Swimmingpools durch die blassblaue Vorstadtnacht. Er segelte über das Hügelland mit den vermoosten Eichen. Wenn seine Mutter zu einem Date ausging, fand er sie in ihrem roten Kleid und den schwarzen Pumps, die an den Zehen kniffen, mit zurückgeworfenem Kopf lachend wie eine Zigeunerin und an den Mann geschmiegt, mit dem sie tanzte. Wer der Mann war, spielte kaum eine Rolle, irgendein Verehrer, der ins Rampenlicht ihrer Aufmerksamkeit getreten war, ehe er wieder ins Dunkel abtauchte, jemand, den sie bei einer Kundgebung getroffen haben mochte, ein geschiedener Zahnarzt, ein verträumter Künstler. Seine Mutter schien vom Kommen und Gehen dieser Bewunderer nie tief berührt. Manchmal hatte Samson den Eindruck – und vielleicht hatten ihn auch die Männer, an die sie sich lehnte, wenn sie frühmorgens in ihren Pumps die Einfahrt hinaufhumpelte –, sie spiele nur auf Zeit.
    Diese Beobachtungen aus der Vogelperspektive beruhigten ihn, die Gewissheit, dass die Nacht auch jenseits der Wände seines Zimmers atmete. Mr.   Shreiner, der mit dem Neuner-Eisen ausholte, seine Mutter, die träumend über das Parkett wirbelte, weniger von ihrem Tanzpartner oder der Band oder dem Bild anderer sich drehender Körper angetan als von ihrer eigenen Anmut. Er setzte seinen Ausflug fort, getrieben von einem sanften, wachsamen Ernst, taumelnd über Berg und Tal, über das gerasterte Land hinweg. Vorbei an zahllosen Leben, wie ein über die Radioskala huschender Sucher, der sich auf das einsame Signal einer einzigen Stimme einstellt.
    Die Stimme seines Vaters war eine seiner frühesten Erinnerungen. Samson hatte in der Überzeugung gelebt, er würde sie jederzeit erkennen, wenn er sie je wieder hören sollte. Einmal, als er gegen Ende eines Little-League-Spiels nach einem Ball im Außenfeld hechtete, war er sich sicher, gehört zu haben, wie sein Vater seinen Namen rief. Der Ball landete mit einem dumpfen Plopp in seinem Fanghandschuh, und während er sich klopfenden Herzens umdrehte, hielt er ihn triumphierend in die Luft. Er suchte die Zuschauerbänke ab, peilte durch das fast submarine Licht. Aber da war keine Spur von jemand, der dem Mann auf den Fotos ähnlich sah. Den Blick weiter auf die Menge gerichtet und den Ball im Fanghandschuh, ging er zu den Bases zurück. Nach dem Spiel wartete er, beobachtete das sich zerstreuende Publikum, bis die letzten Autos abfuhren. Als alle fort waren, ging er zur Plate und mimte ein paar Übungsschläge. Er hörte den stolzen Knall, als der Stock den Ball traf, und – während der imaginäre Ball hoch oben am Himmel über der Sportanlage verschwand – begeisterte Rufe, angeführt von seinem Vater, dessen Stimme die anderen fröhlich übertönte. Gut, Sammy. Gut! Er rannte eine Siegerrunde um die Bases, bis zur Homeplate und dann weiter, quer über den leeren Parkplatz und die Straße hinunter. Spät in der Nacht, nach der üblichen Tour über die Dächer der Nachbarschaft, schlief er ein und verfolgte die Stimme weiter.
     
    Jetzt war er auf dem Rückweg, in umgekehrter Richtung durch den Raum. Aus dem Taxi sah er das Hin und Her des Ozeans am Küstensaum. Der Fahrer zog ein saures Gesicht und saß vorgebeugt über dem Steuer. Er hatte tief liegende Augen und trug ein Sweatshirt mit hochgezogener Kapuze.
    Samson hatte seinen Großonkel Max im Verzeichnis des Adressbuchs in seiner Tasche gefunden. Zu entdecken, was für Schicksalsschläge die verflossene Zeit ihm zugefügt hatte, schien eine schmerzliche Aussicht. Aber Max war ihm als der einzige Mensch eingefallen, der außer Anna wissen konnte, wo seine Mutter begraben war. Er lebte, falls er noch am Leben war, an einem Ort namens Fairview Homes an der Monte Rosa Avenue in Menlo Park, und für hundertfünfzig Dollar im Voraus hatte der Taxifahrer eingewilligt, Samson hinzufahren. Er hatte ihm das Geld gegeben, und der Fahrer hatte sich gierig die Fingerspitzen geleckt und nachgezählt. Dann waren sie losgefahren, der Mann mit einer Hand am Radio, während er mit der anderen lenkte, peinlich darauf bedacht, alle paar Sekunden die Lautstärke zu regulieren. Er spielte mit der

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