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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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gewesen, als er in der Tür zu Großonkel Max’ Arbeitszimmer stand. Es roch nach Pfeifenqualm, gedämpftes Licht fiel in Streifen durch die Jalousien. Die Erwachsenen waren draußen auf der Terrasse; er hörte gelegentliche Lacher und auf den Tellern klapperndes Besteck. Die Geräusche des langsam, gemäß einem Plan, der sein Begriffsvermögen überstieg, vergehenden Nachmittags.
    Das Arbeitszimmer war voller Bücher, viele davon auf Deutsch. Max war unmittelbar vor Ausbruch des Krieges nach Amerika geflohen und hatte einen Lehrauftrag an der Universität bekommen. Samson ging an der Bücherwand entlang, indem er die Finger über die Rücken gleiten ließ. Er hörte die hohe Stimme seiner Tante etwas ausrufen, was er nicht verstand. Er spürte die leise Lust der Heimlichkeit. Er stieß auf ein altes Foto ohne Rahmen. Es war schwarzweiß, besser gesagt, mehr gelb als weiß, auf dickes Papier gezogen. Es zeigte eine Familie, acht oder neun steif um die Eltern herumstehende Kinder. Die Kleider waren hochgeschlossen und pompös. Er betrachtete die Gesichter mit äußerster Aufmerksamkeit und fand sie hässlich. Er hatte keine Ahnung, wer sie waren, nur, dass sie irgendwie zu Max’ Vergangenheit gehörten, und das berührte ihn seltsam. Max hatte sie nie erwähnt, und Samson merkte, dass ihm ein Geheimnis vorenthalten worden war. Er musste eine Weile da gestanden und das Foto in der Hand gehalten haben, denn plötzlich kam jemand durch den Flur, um nach ihm zu schauen. Als Max den Raum betrat und ihn das Bild halten sah, huschte ein unergründlicher Ausdruck über sein Großonkelgesicht. Samson blickte ihn stumpf an, aber im Herzen spürte er die kleine, nicht wieder gutzumachende Verletzung eines Kindes, dessen Vertrauen gebrochen worden ist. Wortlos legte er das Foto ins Regal zurück. Dann ging er an Max vorbei aus dem Zimmer und in den verbleibenden Nachmittag hinaus.
     
    Am Empfang wurde Samson gesagt, Max sei beim Fernsehen im Gemeinschaftsraum. Der Aufsicht führende Pfleger, ein Mann mit dünnem Schlips, schien überrascht, dass der alte Mann Besuch bekam. Samson hatte sich gefragt, ob das Personal ihn vielleicht wiedererkennen würde – sicher war er früher öfter bei Großonkel Max gewesen, vor allem, als er während der Krankheit seiner Mutter nach Kalifornien zurückgekehrt war. Vielleicht hatte er Max sogar selbst in Fairview eingeliefert. Aber der Mann musterte Samson nur argwöhnisch: der letzte überlebende Verwandte, verwahrlost und schmuddelig, wie er aussehen musste, stinkend nach Schweiß und dem üblen – so abstoßend menschlichen – Geruch der Verzweiflung.
    Samson schob vorsichtig seinen Ausweis über den Tisch. Der Pfleger hielt ihn zwischen zwei Finger geklemmt und betrachtete das Foto. Dann trug er Samsons Namen in die Besucherliste ein.
    «Wahrscheinlich brennen Sie schon darauf, ihn zu sehen, Ihren …»
    «Großonkel.»
    «Ihren Großonkel. Großonkel Max», wiederholte der Pfleger, während Samson ihm den Gang hinunterfolgte. Sie betraten einen großen sonnigen Raum mit Linoleumboden. Einige Heimbewohner saßen am hinteren Ende vor einem Breitbandbildschirm, auf dem eine Frau die Zubereitung eines Hühnchens vorführte.
    «Da ist er ja», verkündete der Pfleger fröhlich, als deutete er auf ein rosiges Neugeborenes und nicht auf einen alten Mann in einem abgewetzten Frotteemorgenmantel. «Großonkel Max!», sang er lauthals, während er zu der gebeugten, im Rollstuhl sitzenden Gestalt hinüber sprang. «Schau an, wer da zu Besuch ist!»
    Unter großen Anstrengungen drehte sich der alte Mann aus der Hüfte um, als hätte man ihm die Wirbelsäule zusammengeschweißt. Sein ironischer Ausdruck war von Senilität überschattet, aber unverkennbar.
    Samson musste sich beherrschen, um nicht hinzustürzen und vor dem Rollstuhl auf die Knie zu fallen, um den blasierten Pfleger nicht beiseite zu schubsen und den alten Mann so fest an sich zu drücken, dass er ihm die morschen Knochen brach. Max’ dünnes Haar war einem spärlichen Kränzchen um das Haupt gewichen, die hohe Rundung seines Schädels vollkommen kahl, spiegelglatt und erstaunlich glänzend. Seine Ohren, die in jüngeren Jahren, als noch genügend Haare sie umrahmten, nur wenig abgestanden hatten, so als registrierten sie unzufriedene Regungen oder ein lebhaftes Innenleben, schossen jetzt zu beiden Seiten in einem Winkel weit über neunzig Grad heraus. Mit den Jahren waren sie nach vorn geklappt, und während der Rest seiner

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