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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Skala, als wäre sie ein Instrument, ein Kontrapunkt zum Gaspedal, das er ruckweise trat. Er gluckste bei jedem Lied, das ihm besonders gefiel. Samson fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, sich nach vorn zu setzen, ob der Mann vielleicht Schlagwerkzeuge im Kofferraum hatte. Er überlegte, ob er nicht Pips Bibel herausziehen und zur Schau daraus vorlesen sollte. Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, würde er mit Tremolo verkünden, und wenn der Fahrer Interesse zeigte, würde Samson ihm erzählen, er sei ein Pilger, der seinen ganzen irdischen Besitz aufgegeben habe. Mit einer ebenso inspirierten Stimme wie der Prediger, den Pip im Radio gehört hatte, würde er ihm erklären, wie er die Frau, die er liebte, aufgegeben hatte, und nicht nur leibhaftig, sondern auch all seine Erinnerungen an sie. Er würde dem Fahrer erzählen, wie er für ein Stückchen Leere auf seine ganze Vergangenheit verzichtet hatte.
    Ermutigt, geläutert durch seine eigene Heiligkeit, nahm Samson die Bibel heraus und legte sie sich gut sichtbar auf den Schoß. Der Fahrer sah stur auf die Straße und nahm keine Notiz von ihm, bediente das Steuer und wippte mit beunruhigender Begeisterung auf dem Gaspedal. Samson griff sich in die andere Tasche und zog einzeln die Objektträger heraus, reihte sie auf dem Umschlag von Pips Bibel auf. Entweder merkte der Mann nichts, oder es war ihm egal. Er drehte das Radio auf volle Lautstärke. Wahrscheinlich wäre es ihm schnuppe gewesen, wenn Samson einen abgetrennten Finger aus der Tasche gefischt und auf das Armaturenbrett gelegt hätte.
    Aber hätte der Fahrer dennoch gefragt, hätte er ihm erzählt, er sei ein Pilger. Er hätte gesagt, er sei Jahre fort gewesen und jetzt auf dem Weg nach Hause. Das hätte ihm die Sympathie des Mannes eingebracht, er hätte das Radio leiser gestellt und sich zu ihm geneigt, um jedes Wort aus Samsons Mund zu hören, die ganze Geschichte seiner Seelenqualen, die jetzt, da er nach Hause zu seiner Mutter eilte, ein Ende nahmen. Dem Fahrer wären Tränen in die Augen geschossen, und Samson hätte die Bedeutung seiner Aufgabe herausgestellt. Um eine sichere Fahrt zu gewährleisten, hätte er die Wahrheit ein bisschen zurechtgerückt und gesagt, seine Mutter liege im Sterben und nicht schon im Grab.
    Als sie in Menlo Park den Highway verließen, konnten sie die Monte Rosa Avenue nicht finden. Sie hielten, um nach dem Weg zu fragen, verirrten sich aber noch mehr. Das Gesicht des Fahrers verdüsterte sich, und er beugte sich tiefer über das Steuer. Er fuhr wie ein Besessener und wendete jäh, wann immer ihn das Bedürfnis überkam. Samson beachtete ihn nicht. Er war völlig in Anspruch genommen von dem unheimlichen Schauspiel altbekannter Straßen, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte. Dass sie noch existierten und er sich erinnern konnte, war eine große Entlastung: der Beweis, dass sein Gedächtnis richtig funktioniert hatte. Sie fuhren durch ruhige, mit stuckverputzten Häusern gesäumte Straßen. Das frühe Abendlicht fiel wie Staub auf die Blätter. Samson streckte den Kopf aus dem Fenster und spürte die warme Luft. Ihn überkam ein schwindliges Gefühl.
    Wenige Minuten später befanden sie sich wundersamerweise wie ganz von selbst in der Monte Rosa Avenue. Das Pflegeheim war mit einem diskreten Schild versehen, auf dem in vergoldeter Schrift Fairview Homes stand, im Plural, obwohl sich nur ein einziger Backsteinbau abseits der Straße auf einem Hügel erhob. Der Mann machte sich nicht die Mühe, den kurzen Weg hinaufzufahren, sondern setzte Samson einfach an der Kurve ab und reckte sich über den Sitz, um die Tür zuzuziehen.
    «Hey!» Samson hielt seine Geldbörse ans Fenster. «Wie viel, wenn Sie warten?»
    Der Fahrer machte eine Pause, leckte sich die Lippen. «Das kostet.»
    «Aber wie viel?»
    «Kommt drauf an wie lange.»
    «Eine halbe Stunde. Eine Stunde höchstens. Bestimmt nicht länger als eine Stunde.»
    Der Mann spielte mit dem Radio.
    «Wie viel würde das kosten?»
    «Hundert.»
    «Fünfzig.»
    Der Mann schnaubte und drehte die Lautstärke auf. Samson beugte sich vor und stellte das Radio leiser.
    «Fünfundsiebzig», sagte er, und ehe der Fahrer antworten konnte, drehte er sich um und lief den Hügel hinauf. Hinter ihm explodierte die Musik zum Zeichen, dass das Geschäft besiegelt war.

E s gibt Bilder, die alle anderen überdauern, und doch weiß man nie, welche es sein werden. Er war kaum sechs oder sieben Jahre alt

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