Komoedie des Alterns
bedeckte, mit der Hand trockenreiben –, schätzte er, daß von den vierhundert Personen, die in diese Maschine gepfercht worden waren, gewiß einhundertgerade jetzt für eine Stirnhöhlenentzündung präpariert wurden, sofern die Leute, die hier zugleich schmorten und froren, nicht ohnehin schon gegen alles und somit auch gegen jede Krankheit immun waren, weil sie zur Minderheit der Abgehärteten gehörten, welche die Auslese dieser Gesellschaft bildeten.
Er verstieg sich zu der These, daß, wo immer es zu einer Auslese unter Menschen komme, diese negativ sei, denn es würden nur die ungeschlachten, empfindungsarmen, denkfaulen Charaktere überleben, so daß die Menschheit von Generation zu Generation an Urteilsfähigkeit verliere, doch um so zielstrebiger handle. Das treffe auf die Herrscher ebenso zu wie auf die Beherrschten. Jene beteuerten in ihrer Hirnlosigkeit, nicht zu herrschen, diese wären in ihrer Hilflosigkeit überzeugt, nicht beherrscht zu werden. Er sei, dachte Freudensprung, als einer, der sechs Jahrzehnte gelebt habe und immer noch lebe, nicht anders, nicht besser als die anderen, aber er wisse es wenigstens. Diese Gleichheit der Ungleichen, diese Lebenslüge, zerfresse das Leben. Auch seines.
Er habe sich darüber hinweggetäuscht, sagte er zu sich, daß Sarani der Reiche und Mächtige gewesen sei, er hingegen der Mittellose, Ohnmächtige – und was er für Freundschaft gehalten habe, sei für Sarani ein Machtspiel gewesen, was Heinrich nun erst begreife, da der andere es gewonnen habe. Er habe den Gegensatz zwischen ihnen, anstatt ihn auszusprechen, zur Freundschaft verniedlicht, und dieses falsche Spiel ende nun mit dem Zerfall seiner Person: Er schlafe nicht mehr, esse nicht mehr, und was Sexualität sei, früher für ihn das Wichtigste, daran habe er nur eine dunkle Erinnerung.
Als er Sarani kennenlernte, dachte Freudensprung, seisein Empfinden gewesen, das Beste, was er auf dieser Welt erleben könne, sei, daß der Fremde im Stahlwerk bleibe. Nun wisse er, es wäre am besten gewesen, er hätte ihn verrecken lassen.
Sarani stand am Ofen. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden hatte sich eingespielt, alle zwanzig Minuten wechselten sie einander ab, drei Stunden waren bis zum Ende der Schicht um vierzehn Uhr noch zu arbeiten. Freudensprung saß im Teehaus, trank die bräunliche Brühe und rauchte eine Zigarette. Sechzehn Zigaretten, zwei für jede Stunde der achtstündigen Schicht, legte er Tag für Tag in eine kleine Holzschachtel. Sein Vater hatte sie ihm ohne weiteres überlassen. Sie befand sich in der von der Mutter als Tabaktrafik bezeichneten Lade der Küchenkredenz, die voll war mit grotesken Rauchutensilien, etwa Hülsen aus Papier, in die mit einem eisernen Stopfgerät Tabak gepreßt wurde, wobei etwas entstand, das einer Zigarette ähnelte, von Freudensprung aber nie als solche akzeptiert wurde. Diese gestopften Zigaretten hatte seine Mutter aus Gründen der Sparsamkeit dem Vater oktroyiert, nicht weil man im andern Fall Hunger gelitten hätte, sondern weil sie das Rauchen als unnötig empfand.
Schon als Kind, nicht erst als Jugendlicher, der selbst rauchte, betrachtete er diese mit Tabak gestopften Hülsen zugleich als Demütigung seines Vaters und als Spottgeburten von Zigaretten, die man Menschen so wenig zumuten dürfe wie Jauche als Getränk. Als er mit vierzehn, er ging in die fünfte Klasse des Realgymnasiums in Bruck an der Mur, der Nachbarstadt von Kapfenberg, die erste Zigarette versuchte, mußte es eine sein, die gut aussah, aus einer Packung, die Respekt abnötigte.
An Geld mangelte es ihm nicht. Er hatte in den Sommerferien zum ersten Mal im Stahlwerk gearbeitet, auch, obwohl erst vierzehn, in der Nacht, was dem Gesetz zuwiderlief. Der Direktor des Stahlwerks, Geiger im Kapfenberger Stadtorchester wie Heinrich, hatte ihn in einer öffentlichen Vorspielstunde der Musikschule die zehnte Violinsonate von Mozart spielen hören und war, wie er sagte, von Heinrichs Vibrato beeindruckt gewesen, das einem reifen Geiger zur Ehre gereicht hätte, was einen darüber hinweghören lasse, daß die Technik noch nicht ausgereift sei. Daraufhin bat Freudensprung den Direktor unverfroren, ihn auch nachts und sonntags im Stahlwerk zu beschäftigen, denn die Arbeit dort, in dem Hitzebetrieb, warf selbst für einen Hilfsarbeiter mehr ab als die hochqualifizierte Facharbeit in der Fertigung, der Stahlverarbeitung. Der Direktor schlug ihm die Bitte nicht aus.
Im Herbst, die Schule hatte
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