Konrad Sejer 03 - Wer hat Angst vorm boesen Wolf
eine Kralle. Sejer hatte eine Decke dabei, die er ihr um die Schultern legen wollte. Die ganze Zeit sprach er leise, und obwohl sie zuhörte, schien sie ihn nur durch grauenhaften Lärm zu hören und sich alle Mühe geben zu müssen, ihn überhaupt wahrzunehmen. Doch ihr Gesicht sprach eine deutliche Sprache: Er war gekommen, um sie einer schrecklichen Strafe zuzuführen. Seine Worte, seine Beteuerungen, sein sanfter Tonfall, die ganze Glaubwürdigkeit, über die er, wie er wußte, verfügte, prallten an ihr ab. Und deshalb mußte er das tun, was er am wenigsten wollte: sie mit Gewalt aus der Zelle herausholen. Er konnte sich noch an ihr Schreien und an ihre spitzen, dünnen Schultern erinnern.
Es war ein stattliches Bauwerk, bei genauerem Hinsehen jedoch wurde seine Autorität durch den schlechten Zustand gemindert. Die roten Steine waren verblaßt und im Begriff, denselben Grauton anzunehmen wie der Asphalt unter ihnen. Das Haus versank allmählich in der Ewigkeit. Und doch war es schön, wenn auch nur jetzt, in diesem prachtvollen Sonnenschein. Es fiel Sejer nicht schwer, sich das Heim bei anderem Wetter vorzustellen, im Herbst zum Beispiel, wenn die Bäume ihre nackten Äste spreizten und Wind und Regen gegen die Fensterscheiben peitschten, sicher hatte es dann eher Ähnlichkeit mit Draculas Schloß. Das Dach wurde von einem imposanten Turm gekrönt, der mit patinagrünen Kupferplatten gedeckt war. Die Fassade wies mehrere schöne Erker auf, die Fenster jedoch waren hoch und schmal und paßten eigentlich nicht zum übrigen Bauwerk. Ein ansehnliches Portal mit reich verzierter Treppe bildete den Haupteingang. Daneben befand sich ein klassischer Krankenhauseingang mit breiten Glastüren, es war möglich, mit einem Krankenwagen vorzufahren und eine Bahre hineinzubringen.
Er betrat das Haus. Und passierte, ohne es recht zu bemerken, eine nahezu unsichtbare Rezeption.
»Entschuldigung? Wo wollen Sie hin?« Das hatte eine junge Frau hinter ihm hergerufen.
»Verzeihung. Polizei. Ich muß mit Doktor Struel sprechen.« Er zeigte seinen Dienstausweis.
»Dann gehen Sie in den ersten Stock und fragen da noch einmal.«
Er dankte und ging die Treppe hoch. Im ersten Stock wurde er in ein Wartezimmer geschickt, aus dessen Fenster man auf Garten und Wald blickte. Das Gießverbot galt offenbar nicht für dieses Gelände, denn die Rasenflächen waren grün und dunkel wie Samt. Vielleicht sollten sie ihr Geld für andere Zwecke ausgeben, dachte er. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Farbe des Rasens für die Heiminsassen von entscheidender Bedeutung war. Obwohl er davon im Grunde keine Ahnung hatte. Überlegte er und fuhr herum, denn er hatte das seltsame Gefühl, daß jemand ihn anstarrte.
In der offenen Tür stand eine Frau.
»Ich bin Doktor Struel«, sagte sie. Sejer nahm ihre ausgestreckte Hand.
»Kommen Sie mit in mein Sprechzimmer.«
Er folgte ihr durch den Gang und trat in ein geräumiges Sprechzimmer. Dort wurde ihm ein Platz auf einem Sofa angeboten. Er saß in einem Sonnenstreifen, und sofort brach ihm der Schweiß aus. Dr. Struel ging ans Fenster. Sie kehrte ihm den Rücken zu und starrte auf den Rasen. Machte sich an einer trostlosen Topfblume zu schaffen, die sich in ihrer Haut offensichtlich nicht wohl fühlte.
»So«, sagte die Frau endlich und drehte sich um. »Sie sind also der Mann, der meinen Errki sucht.«
Meinen Errki. Irgendwie rührend, wie sie das sagte. Ganz ohne Ironie.
»Sehen Sie das wirklich so?«
»Sonst will ihn ja niemand«, erwiderte sie schlicht. »Ja, er gehört mir. Ist meine Verantwortung, meine Aufgabe. Und ob er die alte Frau nun ermordet hat oder nicht, daran ändert sich nichts.«
»Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Gurvin hat mich angerufen. Aber ich kann es eigentlich nicht glauben«, sagte sie. »Ich sag das lieber gleich, damit Sie wissen, wo ich stehe. Laßt ihn eine Weile frei herumlaufen, er kommt schon freiwillig zurück.«
»Ich glaube nicht, daß er freiwillig zurückkommt. Jedenfalls nicht so bald.«
Etwas in seiner Stimme, etwas sehr Ernstes, ließ sie Argwohn schöpfen.
»Wie meinen Sie das? Ist ihm etwas zugestoßen?«
»Wieviel hat Gurvin Ihnen erzählt?«
»Er hat mich über den Mord in Finnemarka unterrichtet. Hat gesagt, daß Errki in der Nähe des Hauses gesehen worden ist, zu einem, wie er es nannte, auffälligen Zeitpunkt.«
»Nicht in der Nähe. Er wurde auf dem Hof gesehen. Und deshalb verstehen Sie sicher, daß wir ihn finden müssen. Das
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