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Kontaktversuche

Kontaktversuche

Titel: Kontaktversuche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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würde wohl geschehen, wenn ich plötzlich gerade auf den Abgrund losfuhr? Jeder würde das Irrsinn nennen. Aber warum soll dann nicht alles Irrsinn sein, was wir in unserem Dasein tun? Dies war vielleicht die Geistesverfassung meines Freundes. Über meine Schultern lief ein leichtes Zittern, und ich beeilte mich, die Scheibe hochzukurbeln.
Endlich schien das Unwetter abzuflauen. Es regnete aber noch, ein dünner, vom Wind getragener Regen, trüb und grau. Ich ließ den Motor wieder an. Irgendwo fern im Westen hatte sich in der dichten Masse der Wolken wahrscheinlich ein Fensterchen aufgetan, denn der Asphalt färbte sich rosa. Ich fuhr langsam die Steigung hoch, dann beschleunigte ich allmählich die Geschwindigkeit. In diesem Augenblick hatte ich meine Reifen völlig vergessen, die auf dem überschwemmten Asphalt so angenehm klatschten. Die rosa Färbung verstärkte sich noch, selbst die niedrigen Birkenwäldchen, die auf dem Berghang wuchsen, sahen rosa aus.
Ich hatte noch keine zwei Kilometer zurückgelegt, als ich den Mann zum erstenmal sah. Ich erblickte ihn schon von weitem, er ging, leicht gebeugt und mit gesenktem Kopf, auf der linken Straßenseite ganz allein in der Einöde. Wie ich ihn so von hinten sah, erschien er mir schon älter, fast ein Greis. Er war hager, hatte hängende Schultern, an seinem dürren Hals gewahrte man die Anspannung des alten Zugochsen, der hoffnungslos seinen Karren irgendwohin zieht. Als ich nahe genug heran war, bemerkte ich, daß er eine alte, fadenscheinige Hose und eine Segeltuchjacke anhatte. Auf dem Rücken trug er einen speckigen, halbleeren Rucksack, der ihm wie eine grüne, vom Sturm heruntergerissene Birne bis zum Kreuz herunterhing. Ich war schon an ihm vorbei, als ich, auch für mich unerwartet, anhielt. Vor Jahren hatte ich tatsächlich oft irgendwelche Leute im Wagen mitgenommen, jetzt hatte ich es aber schon lange nicht mehr gemacht. Ich möchte nicht glauben, daß ich gleichgültiger geworden wäre, vielleicht ein bißchen bequemer. Diesmal jedoch hielt ich an. Ich merkte, wie der Wagen beim plötzlichen Ruck des Bremsens ein Stückchen rutschte, beachtete es aber wiederum nicht. Ohne Eile öffnete ich die Tür und schaute zu dem Alten zurück. Eigentlich war er noch gar nicht so alt, wahrscheinlich noch keine sechzig Jahre. Wie ich erwartet hatte, war sein Gesicht recht hager, stark zerfurcht, beinahe grob, wie die Gesichter der alten Pilzsammler, die zu allen Jahreszeiten durch diese Wälder streifen. Der Mann warf mir einen flüchtigen Blick zu, setzte aber seinen Weg fort; er dachte wohl nicht, daß ich seinetwegen angehalten hatte. Mir fiel auf, daß er nicht sehr naß zu sein schien, wahrscheinlich hatte er sich während des Unwetters irgendwo untergestellt.
»Steigen Sie ein!« sagte ich. »Hauptsache, ich fahre in Ihre Richtung.«
Er schaute bedauernd auf seine lehmbeschmierten Schuhe.
»Ich mache Ihnen alles schmutzig…«
»Macht nichts, steigen Sie ein…«
Der Mann trat zögernd ans Auto. Ich drehte mich um und öffnete die hintere Tür. Erneut fiel mir auf, daß seine lange Jacke beinahe trocken war.
»Danke«, sagte er leise und setzte sich hinten hin.
Aber er nahm seinen Rucksack nicht ab – das fiel mir ebenfalls auf. Wahrscheinlich hatte er Angst, beim Aussteigen seine Pilze zu vergessen. Oder er war überhaupt noch nie im Auto gefahren, so daß er auch keine diesbezüglichen Gewohnheiten hatte.
»Wo wollen Sie hin?« erkundigte ich mich, bloß um etwas zu sagen.
Der Mann antwortete mir nicht gleich.
»Ich habe kein bestimmtes Ziel«, sagte er schließlich. »Wo mich der Wind hinweht…«
Die Worte waren ganz einfach, doch die Stimme setzte mich in Erstaunen. So eine durchgebildete, kultivierte Stimme hätte wenigstens einem ehemaligen Gymnasiallehrer gehören können.
»Um so besser«, erwiderte ich, »denn ich fahre nur bis Wlado Tritschkow…«
»Ja, ich weiß«, sagte der Mann. »Sie haben dort einen Bungalow.«
»Entschuldigen Sie, kennen wir uns etwa? Ich habe ein furchtbar schlechtes Personengedächtnis.«
»Nein, nein, Sie haben mich noch nicht gesehen«, entgegnete er. »Aber ich habe Sie einmal mit Ihrem Luftgewehr gesehn.«
Das war mir peinlich. Ich hatte tatsächlich vor zwei Jahren so ein Gewehr für meinen Sohn gekauft, mich aber nicht zufriedengegeben, bevor ich nicht die Spatzen in der ganzen Umgebung ausgerottet hatte. Diese Erinnerung lastete auf mir, und je mehr Zeit verging, desto stärker bedrückte sie mich.
»Ja, das

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