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Kontaktversuche

Kontaktversuche

Titel: Kontaktversuche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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nicht die Kraft dazu hatte. Er schwieg eine Weile und fuhr dann ohne jeden Zusammenhang fort: »Alles, was wir subjektives Leben nennen, ist in Wahrheit etwas völlig Unreales… Wie die Wolken unreal sind, die sich in einem glatten See spiegeln. Wenn der See Wellen schlägt und die Widerspiegelung verschwindet, bedeutet das nicht, daß auch die Wolken fort sind… Alles, was sich auf seiner Oberfläche abgespielt hat, ist ein Tod ohne Bedeutung.«
»Und trotzdem muß man leben«, antwortete ich sinnlos.
»Warum?«
»Weil das natürlich ist…«
»Sicherlich hast du recht«, entgegnete er zögernd. »Natürlich, aber trostlos. Du kommst aus dem Nichts, existierst und wirst wieder zu nichts… Etwas anderes ist es selbstverständlich, wenn du irgendein Ziel erreichst, in dem sich dein eigener Sinn verwirklicht…«
Ich verstummte. In dem großen weißen Zimmer wurde es langsam dunkel, irgendwo in der Ferne donnerte es. Nur sein Gesicht blieb unverändert weiß, mit sauberen, glattrasierten Wangen und zuckenden, rostroten Lidern. Er blickte zum Fenster und sagte leise: »Es kommt ein Gewitter, du mußt gehen…«
»Macht nichts«, sagte ich, »ich bin mit dem Wagen hier, es hat nichts zu bedeuten…«
»Nein, nein, geh nur… Die Straße wird glatt, es ist gefährlich…«
Es schien wirklich keinen Sinn zu haben, länger zu bleiben. Ich merkte, daß auch das bißchen schon zu zerfallen begann, das ich mit solcher Mühe aufgebaut hatte. Deshalb stand ich auf und streckte ihm tapfer die Hand hin, aber er lächelte bloß matt und gab mir seine nicht.
»Geh nur, geh…«
Doktor Wesselinow saß, über Röntgenaufnahmen gebeugt, in seinem Zimmer. Die er gerade in der Hand hielt, erinnerte mich aus irgendeinem Grund an eine ferne, in der schwarzen Finsternis verstreute Galaxis.
»Haben Sie etwas erreicht?« fragte er, ohne den Kopf zu heben.
»Ich glaube schon«, entgegnete ich unsicher.
»Schließlich und endlich müssen Sie ihn irgendwie überzeugen«, sagte er. »Ohne Operation übernehme ich keine Gewähr für sein Leben.«
»Ja, ich weiß«, sagte ich.
Jetzt richtete er sich erst ein wenig auf und sah mich mit seinen merkwürdigen Augen an, die die Farbe von Olivenöl hatten.
»Ich verlasse mich jetzt allein auf Sie… Von seinem eigenen Willen wollen wir nicht reden…«
Ich ging, von Krankenhausgerüchen und Sorgen bedrückt, hinaus. Über dem in die Berge geschnittenen Flußtal hingen tatsächlich schwarze Gewitterwolken, aber in dem Moment achtete ich nicht darauf. Kurze, nervöse Windwirbel tanzten über den zementierten Hof und überschütteten meinen Wagen mit Staubwolken. Ich war gerade gestartet, da fielen die ersten Tropfen, dick und wuchtig, wie fliegende Gewehrkugeln. Da erst ging es mir durch den Kopf, daß meine Reifen ganz abgefahren waren. Es beunruhigte mich nicht sonderlich, so niedergeschlagen und bedrückt fühlte ich mich nach dem heiklen Gespräch. Ich stieß mit dem Wagen rückwärts heraus und kroch langsam den steilen Berg hinan.
Das Unwetter überraschte mich schon auf den ersten Kilometern. Es war ein verspätetes Septembergewitter, doch voller Donner und Getöse. Über die Frontscheibe liefen solche Wasserbäche, daß ich anhalten mußte. Vorsichtig lenkte ich den Wagen auf den rötlichen Randstreifen und stellte den Motor ab. Der Regen peitschte mit unverminderter Heftigkeit, die Donnerschläge folgten einer auf den andern. Ich kannte diese Gewitter im Iskerdurchbruch mit ihrem Widerhall, früher habe ich sie gern gemocht. Dennoch war es richtig gewesen, daß ich angehalten hatte. Über den Asphalt lief wie ein Fluß schwarzes, funkelndes Wasser, das von Zeit zu Zeit im toten Widerschein der Blitze aufleuchtete. Hinter dem Asphalt kam, ohne jede Barriere, der nach Ausdünstungen riechende rote Abgrund. Von da, wo ich stand, konnte ich seinen Grund nicht sehen, war aber sicher, daß mein Auto dort nicht größer als ein Kinderspielzeug ausgesehen hätte.
Ich drehte das Seitenfenster herunter und rückte vom Lenkrad weg, damit mich die Regenspritzer nicht trafen. Dann steckte ich mir eine Zigarette an und lehnte mich zurück. Ich fühlte mich in diesem Moment sehr elend, der Gedanke an den Tod verließ mich nicht. Er hatte sich mit ihm abgefunden, und das war das schrecklichste. Ich konnte nicht begreifen, was das hieß, sich mit dem Tode abfinden, und konnte es auch nicht nachempfinden. Meine Kleider rochen noch immer widerlich nach Sanatorium, ich merkte, daß sich mir der Magen hob. Was

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