Kontrollverlust - Kontrollverlust
Kantine und dem Treffen mit Rünz komplett umzuziehen. Aber seine Wechselgarderobe bestätigte nur die grundlegende Zäsur in seiner Außendarstellung – rustikaler Strickpullover über kariertem Baumwollhemd, derbe Segeltuchhose, alle Stoffe in ruralen Grün- und Brauntönen, dazu Timberland Earthkeeper Boots mit robuster Zwienaht. Hoven sah aus wie ein postmoderner walisischer Ökobauer beim Nachmittagstee. Noch vor wenigen Monaten hätte jeder im Präsidium geschworen, dass seine Brioni-Sakkos zu seinem Körper gehörten wie eine zweite Haut. Jetzt saß er selbst bei Meetings mit hohen Ministerialbeamten oft im Oberhemd da, mit energisch hochgekrempelten Ärmeln, den Krawattenknoten leicht aufgezogen, aber nicht so weit, dass der Eindruck entstand, er kenne die gesellschaftlichen Konventionen nicht. Vielmehr wollte er signalisieren, dass er sie seiner überbordenden Kreativität und seiner absoluten Hingabe an die Aufgabe wegen nur ab und an kurzzeitig vergaß.
Auch sein neues Auto passte stimmig ins naturverbundene Gesamtkunstwerk, ein riesiger Hybrid-SUV von Lexus in Forstgrün. Ein zweieinhalb Tonnen schwerer Pkw mit Hybridantrieb war ungefähr so ökologisch wie ein Flammenwerfer mit Hautschutz-Zusatz human, aber darauf kam es ja nicht an. Und dann diese kreative Hornbrille mit dem dicken schwarzen Rahmen, die das filigrane Titangestell auf seiner Nase verdrängt hatte, mit dem er immer so nach Investmentbanker ausgeschaut hatte. Von den Haaren ganz zu schweigen, so ein angedeuteter Dirigenten-Schopf, der in alle Himmelsrichtungen abstand, ein wohlkalkulierter Hauch von Freigeist und zerstreutem Genie. Hoven war alles zuzutrauen – entweder er griff morgens kurz in die Steckdose, oder er toupierte sich diesen Kreativlook vor dem Spiegel hoch.
Auf seinem Schreibtisch lagen jetzt stets die aktuellen Ausgaben von ›Cicero‹, Tyler Brûlés elitärer Kosmopolitenpostille ›Monocle‹ und natürlich ›brand eins‹, sorgfältig aufgefächert wie Requisiten für ein Interior-Architecture-Fotoshooting. Hoven, bis dato eigentlich Stammabonnent von ›Wirtschaftswoche‹, ›Financial Times‹ und ›Harvard Businessmanager‹, war durch die Wirtschaftskrise offenbar zum prototypischen brand eins-Leser mutiert – ein sich als Querdenker gerierender Steigbügelhalter des Kapitalismus. brand eins war für die Weltrevolution in etwa das, was die Brigitte für den Feminismus darstellte – hier flexible Lebensmodelle für die optimierte Selbstausbeutung, dort freche Trendfrisuren gegen Tristesse im Büro.
»Also, was Sie sich da ausgedacht haben, finde ich fantastisch, Herr Hoven«, sagte Rünz auf gut Glück, um sich ins Gespräch zu bringen. Hoven nickte anerkennend. »Gefällt mir sehr gut, wie Sie inzwischen auf meine Reformvorschläge reagieren, Herr Rünz. Ihr Commitment zu unserer Corporate Governance ist wirklich vorbildlich.«
»Na ja, ich gebe zu, in den ersten Jahren hatte ich wirklich ein wenig Probleme mit Ihrem Innovationstempo. Aber irgendwie habe ich jetzt das Gefühl, dass da ein Knoten in mir geplatzt ist. Ich fühle mich einfach offener für Change .« Rünz zuckte zusammen. Hatte er das wirklich selbst gesagt? Vielleicht sollte er sich mal beim Hausarzt durchchecken lassen. Aber Hoven schien ihn ernst zu nehmen. Der Kommissar testete gelegentlich eine neue Kommunikationsstrategie im Umgang mit seinem Vorgesetzten – hemmungsloses Einschleimen. Bei den ersten Versuchen hatte er seinem Chef einfach immer Recht gegeben, dann aber die Anbiederei innerhalb kurzer Zeit zu einer Kunstform weiterentwickelt. Die verfeinerte, höhere Form der Arschkriecherei, so seine Erfahrung, äußerte sich ja gerade nicht darin, einem Weisungsbefugten permanent nach dem Mund zu reden. Vielmehr galt es, hatte er festgestellt, hier und da präzise kalkulierten Widerspruch in Detailfragen zu platzieren, der konstruktive Kritik bei gleichzeitiger Nibelungentreue zur Gesamtstrategie signalisierte. Entscheidend war natürlich ein hohes Maß an Einfühlung in den Vorgesetzten, sollte der Widerspruch doch exakt die Kurskorrektur vorwegnehmen, die im Kopf des Weisungsbefugten gerade erst an Kontur gewann.
Hoven hob motivierend die Augenbrauen. »Verstehen Sie unseren kleinen Face-to-Face-Dialog hier ruhig als Strategic Assessment im Hinblick auf Ihre Zukunft, Herr Rünz.« Er beugte sich über den Tisch und senkte komplizenhaft die Stimme. »Mal ganz im Vertrauen, Herr Rünz. In zwei Jahren wird in diesem Präsidium
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