Kontrollverlust - Kontrollverlust
nichts mehr so sein, wie es war. Mit meiner Agenda 2020 bauen wir das Präsidium der Zukunft. Flexibel, schnell, hochperformant, kundenorientiert, nachhaltig, mit Zero Emission. Und Ihnen habe ich im Zusammenhang mit diesem Transformationsprozess eine Schlüsselposition zugedacht.«
Hoven stand auf und schaute aus dem Fenster in den Himmel über der Ludwigshöhe, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt. Mein Gott, dachte Rünz, was für eine ergreifende Szene, voller Pathos. Wie der Führer und sein Architekt auf dem Obersalzberg. Zwei Visionäre über den Entwürfen für die neue Reichskanzlei.
»Es geht hier um Leadership, Herr Rünz. Um Sie glaubwürdig zu positionieren, brauchen Sie natürlich den nötigen beruflichen Background. Eine Success Story – wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich habe mir mal Ihren CV angeschaut.« Hoven drehte sich um und schaute Rünz tadelnd an. »Sagen Sie mal, sind Sie je aus diesem Kuhdorf hier rausgekommen, abgesehen von der Polizeischule in Wiesbaden?«
»Na ja …«, stotterte Rünz. »Ich war mal vier Wochen auf Langeoog. Zur Kur. ’88 oder ’89 müsste das gewesen sein.«
Hoven seufzte. »So geht das nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Ihr Lebenslauf ist ein einziger Trigger Point. Für diese Position brauchen Sie professionelle Credibility, sonst fehlt Ihnen das nötige Standing. Wir müssen Ihre Vita aufpimpen, da hilft nichts. Lassen Sie mich mal überlegen.«
Hoven begann, im Raum auf- und abzuschreiten, mit Daumen und Zeigefinger in Schwerdenkerpose seinen Kopf stützend, dann legte er los. »Notieren Sie doch schnell mal ein paar Stichworte.«
Rünz hatte gerade noch Zeit, sich ein leeres Blatt und einen Stift von Hovens Schreibtisch zu klauben, bevor sein Chef loslegte.
»Die Schulzeit lassen wir mal weg. 1980 bis 1984 Graduiertenkolleg an der International Law School in Bregenz, 1985 bis 1990 Aufbau und Leitung der Interpol-Sektion ›Information Technology Crime‹ in Lyon, 1991 bis 1998 verantwortliche Leitung der ›ICT Solutions Development Branch‹ bei Europol in La Hague. Und von 1999 bis 2005 Security Advisor des ›European Institute of Innovation & Technology‹.«
Hoven stützte seine Hände auf die Tischplatte, beugte sich zu Rünz herunter und strahlte ihn an. »Na, wie fühlt sie sich an, Ihre neue Identität?«
»Na ja, noch etwas ungewohnt. Ist das nicht …«, Rünz suchte nach den richtigen Worten, »… ich meine, juristisch ist das ja durchaus anfechtbar.«
»Warum? Wir erwähnen an keiner Stelle, was genau Sie in diesen Institutionen gemacht haben – mal abgesehen davon, dass keine dieser Abteilungen existiert. Kein einziger akademischer Abschluss taucht auf – also auch kein Titelschwindel. Und Sie glauben doch nicht, dass Kollegen in Chemnitz oder Castrop-Rauxel erst mal Ihre Zeugnisse anfordern, wenn die Unterstützung von Ihnen brauchen. Also – nicht so zaghaft, Herr Rünz. Wir starten richtig durch mit Ihnen!«
»Chemnitz? Liegt das nicht in der DDR? Wir sind doch nur für Hessen zuständig!«
»Nicht mehr lange, Herr Rünz. Nicht mehr lange …« Hovens Augenlider zitterten wie die eines malariakranken Missionars im schwarzafrikanischen Dschungel. »Ihr hessischer Äppelwoi-und-Handkäs-Horizont wird sich bald erweitern.«
Rünz bekam schweißnasse Hände. »Aber die Kollegen hier im Präsidium«, bremste er. »Die kennen doch meine Ausbildung, da mache ich mich doch lächerlich mit so einem aufgeblasenen Lebenslauf.«
»Nach innen brauchen wir das doch überhaupt nicht kommunizieren«, winkte Hoven ab. »Ich rede nur von Ihrer Außendarstellung! Fangen Sie nicht gleich wieder an zu zaudern, Rünz. Behalten Sie den Kompass im Auge, setzen Sie den Spinnaker und segeln Sie auf das große Ziel zu! Die Kollegen im Rest der Republik brauchen Sie, wenngleich viele von ihnen es noch nicht wissen. Ihr neuer Lebenslauf spiegelt einfach nur das wider, was Sie ohnehin können. Insofern ist er eigentlich wahrer als Ihr echter Lebenslauf! Glauben Sie wirklich, irgendein Mensch würde einen Porsche kaufen, wenn die Marketingtruppe in Zuffenhausen ihre Anzeigen für den neuen 911er nur in der Superillu schalten würden?«
Rünz stieß anerkennend die Luft aus. Das klang irgendwie plausibel. In Hoven schlummerte doch ein ausgebuffter Dialektiker. Und was den Willen zur zielgerichteten und PR-gerechten Umdeutung der Vergangenheit anging, war er William F. Cody, dem großen Showmaster des Wilden Westens, nicht ganz
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