Kontrollverlust - Kontrollverlust
Chef wahrscheinlich mindestens zehntausend Mäuse vor Steuern. Und wenn er fünf oder sechs Zweierteams gleichzeitig im Einsatz hatte, verdiente er sich eine goldene Nase. Toni würde sich irgendwann selbstständig machen in der Branche. Klar, er hatte keinen Meisterbrief, aber die von der Innung sahen das heute nicht mehr so eng. Schließlich konnte er einen Haufen Erfahrung vorweisen. Ein paar Asiaten würde er einstellen, die hatten keine Angst vor der Höhe, stellten keine Fragen und arbeiteten für fünf Euro pro Stunde wie die Bienen. Er war dumm, wenn er es nicht versuchte. Sein Halbbruder Jerome hatte vor seinem Tod schließlich ebenfalls alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Fast alles. Diese Amerikaner tickten einfach anders. Dachten immer positiv. Im Grunde fühlte er auch wie ein Amerikaner. Vielleicht würde er noch rübergehen, und den großen Traum realisieren. Ein Fassadenreiniger-Imperium aufbauen. Vom Fensterputzer zum Millionär.
Während Toni routiniert auf seiner Seite der Gondel die Scheiben einseifte, mit der Gummilippe abzog und dabei von einer goldenen Zukunft träumte, ließ er den Neuen nicht aus den Augen. Menschen, die Angst hatten, waren unberechenbar. Hoffentlich wurden sie oben vom Wind richtig durchgeschüttelt, vielleicht würde sich der Neue gleich abends mit zitternden Knien beim Chef die Papiere abholen, und Toni musste sich nicht weiter mit ihm herumschlagen. Er brauchte jemanden, mit dem er sich entspannt unterhalten konnte bei der Arbeit. Die Abende alleine vor dem Fernseher waren einsam genug. Meist hatte er keinen Bock mehr, nach Feierabend noch um die Häuser zu ziehen, diese Zeiten waren einfach vorbei. Seine Schultern schmerzten dann von der Wischerei, und er wollte nur noch auf dem Sofa liegen, sich eine DVD reinziehen und ab und zu die Bierflasche ansetzen.
Ob der Neue eine Familie hatte? Jemand, der sich freute, wenn er nach getaner Arbeit nach Hause kam? Vielleicht hatte er Angst, weil er etwas zu verlieren hatte. Und Toni fürchtete sich nicht, weil er für niemanden Verantwortung trug. Weil niemandem eine schlechte Nachricht zu überbringen war, wenn ihm mal was passierte. Er legte die Hand auf den Bauch, da, wo er unter dem Overall die Briefe mit sich trug, zum Schutz vor der Nässe und dem Dreck eingeschweißt in Frischhaltefolie. Das Gefühl beruhigte ihn, so, als würde er Jerome berühren.
9
»Subkutane Inkontinenz am Lateral-Abdomen. Transversal-Dermatome am ganzen Körper, hochkonzentrierte Rückstände von Apoptose-Rezeptoren in den koronaren Metabolismen. Extrem niedriger respiratorischer Koeffizient. Wenn Sie mich fragen – Exitus durch cardiovaskuläre Trigeminus-Kontraktionen.«
Der junge Forensiker steckte sich nach seiner Kurzdiagnose über dem geöffneten Unterleib der jungen Frau die Crackpfeife in den Mund, die Kristalle knackten unter der Flamme seines Feuerzeuges. Er nahm einen tiefen Zug und schaute Stark mit glasigen Augen an.
Rünz las die Szene noch einmal durch. Eine Autopsie war Pflichtprogramm für jeden Thriller. Da er weder Zeit noch Lust hatte, sich in rechtsmedizinische Fragestellungen einzuarbeiten, hatte er einfach einige Fachtermini zusammenmontiert, die er in ›Dr. House‹ und ›In aller Freundschaft‹ aufgeschnappt hatte, und die Soße mit ein paar Fremdwörtern aus alten Gutachten von Bartmann angedickt. Ein wenig Fachsimpelei machte die Sache glaubwürdig. Da stimmte vielleicht nicht alles im Detail, aber wer würde es bemerken? Mediziner hatten sowieso keine Zeit, Thriller zu lesen. Wichtig war ein Rechtsmediziner mit einem kapitalen Schuss. Fiktionale Forensiker hatten immer einen Schuss, da konnte man gar nicht dick genug auftragen. Rünz wurde unsanft aus der kreativen Arbeit gerissen, sein Timer summte. Hovens verdammte Vollversammlung. Hier kam man ja zu nichts.
Zwei Minuten später stand der Kommissar mit einigen Kollegen staunend und sprachlos vor den großen Texttafeln am Eingang der Kantine.
Wer auch immer kommt, es sind die richtigen.
Was auch immer geschieht, es ist das Einzige, was geschehen konnte.
Es beginnt, wenn die Zeit reif ist.
Vorbei ist vorbei – Nicht vorbei ist Nicht-vorbei.
Mit der Belegschaft des Polizeipräsidiums Südhessen ein ›Open-Space-Meeting‹ zu veranstalten, war so erfolgversprechend wie der Versuch, mit einem Mario-Barth-Fanclub eine Lyrik-Lesung zu organisieren. Aber Hoven war in solchen Fragen beratungsresistent. Um nicht vollkommen
Weitere Kostenlose Bücher