Kontrollverlust - Kontrollverlust
unvorbereitet und wehrlos dazustehen, hatte sich Rünz bei Wikipedia über die Open-Space-Methode zu informieren versucht, war aber nach zwanzig Minuten Lektüre genauso schlau wie vorher. Wenigstens wusste er jetzt, dass sich die Methode für zwölf bis zweitausend Teilnehmer eignete und ein Meeting zwischen zwei Stunden und drei Tagen dauerte. Open Space war eine klassische Kopfgeburt aus dem Kreissaal des großen Metagelabers, in dem Coaches, Businessgurus, Kommunikationstrainer und Consultants ohne Unterlass und unter heftigen intellektuellen Presswehen verquaste und inhaltsleere, vulgärphilosophisch unterfütterte Techniken gebaren, die von den Entscheidern in Wirtschaft und Verwaltung begierig – und gegen beachtliches Entgelt – adoptiert wurden.
Zur Anmoderation vor der vollständig versammelten Präsidiumsbelegschaft präsentierte sich Hoven in erdfarbenem Kaschmir-Pullover mit V-Ausschnitt, bügelleichten Chinos, handgenähten Rauhleder-Mokassins und dem Ansatz eines Vollbartes. Er sprach frei, wie improvisiert, lässig neben dem Rednerpult stehend – in Auftritt und Duktus die perfekte Metapher für Nachhaltigkeit, Vernunft, Verantwortung und soziale Gerechtigkeit. Wie ein NGO-Sprecher beim Klimagipfel in Kopenhagen. Wo war nur der alte Performer geblieben?
Hoven sprach von seiner AGENDA 2020, vom ›Präsidium der Zukunft‹, von irgendwelchen Kindern, die uns diesen Planeten angeblich nur geliehen hatten, und als zum ersten Mal der Ausdruck ›Carbon Footprint‹ fiel, ging ein Raunen durch die Reihen. Die Kolleginnen und Kollegen schauten sich verständnislos an. Wedel und die anderen Autofreaks spekulierten begeistert darüber, ob bald Karbon-Tuningteile in den Einsatzwagen verbaut würden. Andere munkelten, Dokumente und Protokolle seien ab sofort mit den Fußsohlen abzustempeln. Nur Brecker, der sich in all seiner bemitleidenswerten Lethargie einen Rest an Intuition bewahrt hatte, kommentierte Hovens Eingabe spontan und mit konziser Präzision – mit einem mächtigen, markerschütternden Furz.
Hoven ließ sich durch die Methaneruption nicht aus der Ruhe bringen, er faselte vom Green Headquarter, von den Zero Emission Security Forces , und erst allmählich schälte sich heraus, dass es mit Energieverbrauch, CO 2 -Ausstoß und Klimaschutz zu tun hatte, der zeitgemäßen Beschäftigungstherapie für unausgelastete, urbane LOHAS.
Er trug einen langen und detaillierten Maßnahmenkatalog vor – weniger Ausdrucke und Kopien, Videokonferenzen statt Dienstfahrten zu Meetings, Einsatz stromsparender Leuchtmittel –, den die Belegschaft mit Gähnen, Augenrollen und demonstrativ-auf-die-Uhr-Schauen quittierte. Nur beim letzten Punkt waren alle plötzlich wieder hellwach. Hoven kündigte an, den Fleischanteil im Speiseplan der Kantine radikal zu senken – wegen der klimaschädlichen Nutztierhaltung. Dieser Mann verstand es, sich Feinde zu machen.
Nachdem Hoven sein Impulsreferat abgeschlossen hatte, forderte er die Belegschaft zu Wortmeldungen zur Agenda 2020 auf. Was immer ihm vorgeschwebt hatte – kreative Ideen für mehr Effizienz bei der Verbrechensbekämpfung, neue Impulse für die Öffentlichkeitsarbeit, unkonventionelle Ansätze für die Vernetzung mit den Kollegen in den anderen Bundesländern –, Hoven bekam, was er verdient hatte. Die Beiträge und Vorschläge der Mitarbeiter liefen im Wesentlichen auf folgende Forderungen hinaus:
Mindestens dreimal pro Woche in der Kantine SchniPoSa (Schnitzel mit Pommes und Salat)
Public Viewing bei Europa- und Weltmeisterschaften mit Großbildschirm in der Kantine
Dito UEFA-Cup und Champions-League ab Achtelfinale
Sukzessive Aufstockung des Frauenanteils auf mindestens vierzig Prozent
Weihnachts- und Sommerfest ohne Ehepartner
Weihnachts- und Sommerfest auswärts mit Übernachtung
Die drei letzten Punkte standen in unmittelbarem thematischen Zusammenhang, aber Rünz war sich nicht sicher, ob Hoven das erkennen würde. Und er rätselte zudem, ob es ein gutes Zeichen war, als Hoven ihn nach dem Open-Space-Meeting noch zum Vier-Augen-Gespräch in sein Büro bat.
10
Der Kollege von der IT-Abteilung stand schräg hinter Hoven und schaute ihm über die Schulter beim verzweifelten Versuch zu, eine Kommunikation zwischen seinem Blackberry und seinem Apple Notebook herzustellen. Der EDV-Spezialist wirkte schon etwas gereizt, er war türkischer Abstammung und gehörte nicht zu den Menschen, die mit ihren Gefühlen lange hinter
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