Kontrollverlust - Kontrollverlust
Sie erhalten in wenigen Sekunden eine Mail mit Ihrer Auftragsnummer. In Kürze wird sich einer unserer Mitarbeiter mit Ihnen in Verbindung setzen. Wir bitten Sie, bis dahin von Statusabfragen abzusehen. Auf Wiederhören und einen schönen Tag, Herr Rünz.«
»HALT, Moment! Wir sind hier doch nicht bei der Telek…!«
Sie hatte schon abgebrochen. Verdammte IT-Revolution. Vor Hovens Agenda 2020 war kein Bereich sicher. Früher lief alles ganz einfach: Wenn man ein Problem mit seinem Desktop-Rechner hatte, rief man einen von den Computerfritzen im vierten Stock an, der kam runter, reparierte die Sache, und man hielt bei der Gelegenheit noch einen halbstündigen Plausch über die neue Praktikantin. Hoven hielt das von Anfang an für unprofessionell.
Plötzlich klingelte das Telefon – die IT-Abteilung – und gleichzeitig begann sein Mauszeiger, wie von Geisterhand bewegt über den Bildschirm zu huschen. Rünz nahm den Hörer ab und ließ dem Anrufer keine Zeit, sich vorzustellen. Er war in Panik. »Oh Gott, jetzt spielt der Rechner völlig verrückt – die Maus bewegt sich von selbst!«
»Keine Sorge, Herr Rünz«, beruhigte der Anrufer. »Ich habe nur das Live-Support-System aktiviert und habe jetzt Zugriff auf Ihren PC. Da sind noch einige Anwendungen geöffnet, kann ich die schließen?«
»Ja ja, selbstverständlich«, stotterte Rünz.
»Das Word-Dokument mit diesem – ähm – ›Protokoll‹ auch?«
»Ja, aber bitte vorher speichern!«
»Und was ist mit diesem Browserfenster mit der offiziellen Chuck-Norris-Webseite?«
»Ja, Herrgott noch mal.«
»Und diese Amazon-Webseite? Da scheint noch etwas im Einkaufskorb zu liegen – ›Handfeuerwaffen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg‹ und ›Beckenbodentraining für Männer‹ – möchten Sie den Bestellvorgang erst zu Ende bringen?«
»Nein, verdammt! Machen Sie Ihren Job und lassen Sie mich in Ruhe!«
»Ich sehe gerade, dass Sie Ihren Mail-Eingang vor dreißig Tagen zum letzten Mal gesichtet haben …?«
»Ja, äh, sorry, ich war in Urlaub.«
»In Urlaub? Seltsam. Ihr Abwesenheitsagent war nicht aktiviert. Außerdem fehlt ein Urlaubseintrag in Ihrem Gruppenkalender.«
»WIRD DAS HIER EIN VERHÖR, ODER WAS? Reparieren Sie meinen verdammten Browser! Ich habe hier einen Mordfall aufzuklären. Und woher soll ich wissen, wie man einen Scheiß-Abwesenheitskalender aktiviert und Einträge in einem Gruppenkalender macht?«
Sein Gesprächspartner schwieg zwei Sekunden, bevor er antwortete. »Haben Sie unser letztes IT-Circular denn nicht gelesen?«
Nach fünf weiteren Minuten konfliktgeladener Kommunikation saß der Kommissar wieder vor einem funktionsfähigen Webbrowser. Er atmete tief durch und tippte die beiden Suchworte ein. Es war der erste Eintrag in der Google-Trefferliste, eine Rückschau von Welt Online zum zwanzigsten Jahrestag des Absturzes einer Thunderbolt der US-Luftstreitkräfte im Remscheider Stadtteil Hasten.
27
Bevor er Brecker zur Rede stellte, musste er sich Gewissheit verschaffen. Der Alte in Remscheid hatte sehr reserviert reagiert, er war nicht bereit gewesen, am Telefon irgendwelche Details über seine Kontakte zu Brecker preiszugeben. Drei Telefonate und den vollen Einsatz seines ohnehin unterentwickelten Verhandlungsgeschicks hatte es den Kommissar gekostet, bis er ein persönliches Treffen vereinbaren konnte. Nun zockelte er mit seinem Passat auf der A3 durch den Westerwald Richtung Norden, mit dem Knie lenkend, mit der Linken in den ausgedruckten alten Presseartikeln blätternd, die auf seinem Schoß lagen, mit der Rechten sein Handy ans Ohr pressend, denn Wedel hatte ihm noch einige Hintergrundinfos über die Geschichte auf die Mailbox gesprochen. Wenn ihn so die Autobahnpolizei erwischte, würde er seine Dienstfahrten in Zukunft mit einem Bobby-Car machen müssen.
Am 8. Dezember 1988, einem nebligen Adventstag, waren vom Fliegerhorst Nörvenich bei Köln gegen Mittag achtzehn Thunderbolt A-10 zu Tiefflugübungen über Hessen gestartet. Die Piloten hatten Instrumentenflug beantragt, der Rottenführer entschied aber kurz vor dem Start, nach Sichtflugregeln zu fliegen. Sein Wingman Michael Foster verlor über dem Bergischen Land in dichter, bodennaher Bewölkung die Orientierung. In Hasten, einem Stadtteil von Remscheid, streifte er ein Wohnhaus und knallte auf ein benachbartes Firmengelände. Die Bilanz: Pilot tot, sechs Bewohner tot, über fünfzig Schwerverletzte, zwanzig zerstörte Häuser.
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