Kontrollverlust - Kontrollverlust
Die Pressefotos zeigten einen völlig zerstörten Straßenzug, die Häuser aufgerissen und ausgebrannt wie nach einem Luftangriff.
Rünz erinnerte sich vage an die Rundfunkberichterstattung über das Unglück, an Fernsehreportagen mit einem professionell bestürzten Johannes Rau am Unglücksort. Und er erinnerte sich vage an Berichte über uranhaltige Munition, Klagen der Anwohner über chronische Erkrankungen, noch Jahre nach dem Absturz.
Der Kommissar hatte kein gutes Gefühl, was das Gespräch mit dem Alten anging. Hinter dem Autobahnkreuz Leverkusen erleichterte er an einer Raststätte noch einmal seine Blase. Am Pissoir neben ihm urinierte ein etwa Sechzigjähriger; vielmehr hatte der es schon hinter sich, er bearbeitete seinen Schwanz intensiv und ausdauernd wie die Melkerin die Zitze am Euter der Kuh, als wollte er auch noch den letzten kostbaren Tropfen durch die Engstelle an der geschwollenen Prostata hindurch aus der Harnröhre pressen. Ein paar Jahre noch, dachte Rünz, dann würde er auch so dastehen und sich melken. Alt werden war nichts für Feiglinge.
»Sind Sie nass geworden?«
Rünz wischte sich mit den Ärmeln seiner Jacke über die tropfenden Haare. »Geht schon«, sagte er. »Sauwetter.«
Der Alte humpelte vor ihm her Richtung Wohnzimmer. Er hatte groteske O-Beine, schmale Schultern und einen kleinen Buckel.
»Ist nicht immer so schlecht hier. Ende der Neunziger hatten wir mal zwei Tage Sonne – war wie ein Volksfest!«
Rünz wollte aus Höflichkeit über den Spruch lachen, der Versuch endete in einem Hustenanfall. Er schaute sich um und erblickte die typische, deprimierende Wohnung eines alleinstehenden alten Mannes, frei von jedem Dekor in Form von Deckchen, Schalen, Bildern, Blumen oder Spitzengardinen, das Mobiliar eine herzzerreißend hässliche Mixtur aus drei Jahrzehnten Discount-Möbelmarkt. Ein Teil des Inventars war in Umzugskartons verpackt, die überall herumstanden.
»Sie sind frisch eingezogen?«, fragte Rünz. Erst mal locker und unverfänglich in die Konversation einsteigen, dachte er.
»Ich ziehe aus«, schnarrte der Alte militärisch knapp. »Pflegeheim. Endstation.«
Prima Auftakt, dachte Rünz. Der Alte verschwand kommentarlos in der Küche. Rünz suchte fieberhaft nach einem harmloseren Smalltalk-Thema, sein Blick wanderte hilflos im Raum umher und blieb an einem gerahmten Foto auf einer kleinen Anrichte hängen. Eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme einer Gruppe junger Männer in einem Metall verarbeitenden Betrieb.
»Fünfundvierzig Jahre Werkzeugfabrik Hazet«, knurrte der Alte hinter Rünz, als würde er einem Offizier Meldung erstatten. Er reichte dem Kommissar eine Dose Billigbier über die Schulter. »Alles mitgemacht. Rangeklotzt wie die Schweine damals. Die meisten von den Jungs sind nicht mehr.«
Damit ließ sich der Rentner in sein Sofa fallen, öffnete die Bierdose, setzte an und saugte sie förmlich aus – ohne zu schlucken, der Adamsapfel unter der faltigen Haut seines dürren Halses bewegte sich keinen Millimeter. Er setzte ab, presste die Dose zusammen und versenkte sie mit einem präzisen Wurf in einem Karton, der unter dem Fenster stand. Metall schepperte auf Metall.
»Ah, das war lecker. Ich hab auch Gläser, wenn Sie wollen.«
Rünz winkte dankend ab. Der Alte schaute ihn skeptisch an.
»Sie sind der Schwager von dem Typ?«
Rünz nickte.
»Und Sie haben nichts mit der Polizei oder diesen Zeitungs- und Fernsehfritzen zu tun?«
Rünz schüttelte den Kopf und setzte die Dose an. Eigentlich hatte er keine Lust, vor der Heimfahrt zu trinken, aber etwas Stammtischatmosphäre würde den Alten vielleicht redseliger machen.
»Ich krieg doch keinen Ärger, oder? Kann keinen Ärger gebrauchen.«
»Hören Sie«, sagte Rünz. »Ich weiß nicht, was mein Schwager Ihnen abgekauft hat. Aber er ist einer von der labilen Sorte, er tickt manchmal nicht ganz richtig. Ich habe das Gefühl, er ist kurz davor, eine Riesendummheit zu machen. Wenn Sie mir sagen, Sie haben ihm irgendeine Schrankwand in Eiche rustikal oder einen alten Ford Capri vertickt, mache ich mich entspannt auf den Heimweg. Aber wenn es irgendwas ist, womit er Schaden anrichten kann, müssen Sie es mir sagen. Ich versichere Ihnen …«
Der Alte winkte ab, starrte aus dem Fenster und schwieg, fast eine Minute lang. »War neblig damals«, nuschelte er schließlich, leise und kaum verständlich. »Viel schlimmer als heute, eine richtig dicke Suppe. Und arschkalt. Drei Grad. Hab mit
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