Kopernikus 4
nur einen Bruchteil von dem, was das Mesozoikum wirklich war, bloß ein Stückchen, buchstäblich nicht mehr als die blanken Knochen. In einem Zeitraum von hundert Millionen Jahren können alle Spuren einer Zivilisation verschwunden sein. Nehmen wir an, sie besaßen eine Sprache, Dichtung, Mythologie, Philosophie? Liebe, Träume, Hoffnungen? Nein, werden Sie sagen, es waren Tiere, riesenhafte, dumme Tiere, die ein gedankenloses, bestialisches Leben führten. Darauf antworte ich, daß wir kümmerlichen behaarten Wesen nicht das Recht haben, unsere Werte auf sie zu übertragen. Die einzige Zivilisation, die wir verstehen können, ist jene, die wir errichtet haben. Wir bilden uns ein, daß unsere eigenen trivialen Errungenschaften das Maß aller Dinge sind, daß Computer und Raumschiffe und Bratwürstchen solche Wunderwerke sind, daß sie uns zum Gipfel der Evolution machen. Aber ich weiß es jetzt besser. Die Menschen haben wundervolle, sogar unglaubliche Dinge geschaffen, ja. Aber wir hätten überhaupt niemals existiert, wenn es dieser größten aller Rassen vergönnt gewesen wäre, zu überleben und ihre Bestimmung zu erfüllen.
Ich fühle die intensive Liebe, die von dem Titanen über mir ausstrahlt. Ich fühle, wie sich der Kontakt zwischen unseren Seelen stetig verstärkt und vertieft.
Die letzten Schranken lösen sich auf.
Und endlich verstehe ich!
Ich bin die Auserwählte. Ich bin die Mittlerin. Ich bin der Schoß der Wiedergeburt, die Geliebte, die Notwendige. Unsere Liebe Frau von den Sauriern bin ich, die Heilige, die Prophetin, die Priesterin.
Wenn dies der Wahnsinn ist, empfange ich ihn mit offenen Armen.
Warum haben wir kleinen, haarigen Geschöpfe überhaupt existiert? Jetzt weiß ich es. Mit unserer Technologie konnten wir die Rückkehr der Großen ermöglichen. Ihr Untergang war ein Unrecht. Durch uns sind sie wieder erstanden, auf dieser kleinen Kugel im All.
Die Macht des Verlangens, das ihnen entströmt, läßt mich zittern.
Ich werde euch nicht enttäuschen, sage ich den großen Sauriern vor mir, und die Saurier senden das Echo meiner Gedanken hin zu allen anderen.
20. September, 6.00 Uhr. Der dreißigste Tag. Heute kommt die Raumfähre vom Wronsky-Satelliten, um mich abzuholen und den nächsten Forscher abzusetzen.
Ich warte bei der Transitschleuse. Mit mir warten Hunderte von Dinosauriern, dicht an dicht, die Löwen neben den Lämmern; schweigend haben sie sich versammelt, und ihre Aufmerksamkeit ruht ganz und gar auf mir.
Jetzt sinkt die Fähre herab, auf die Minute pünktlich, und gleitet auf den Liegeplatz. Die Schleusen öffnen sich. Eine Gestalt erscheint. Sarber selbst! Er ist gekommen, um sicherzustellen, daß ich den Schmelzbrand nicht überlebt habe, oder mich, falls nötig, endgültig zu erledigen.
Er steht blinzelnd in der Eingangsöffnung und glotzt auf die Massen von friedlichen Dinosauriern, die im Halbkreis die nackte Frau neben dem Wrack des Mobilmoduls umringen. Einen Moment lang bringt er kein Wort heraus.
„Anne?“ sagt er schließlich. „Was, um Gottes willen …“
„Sie werden es niemals verstehen“, sage ich und gebe das Zeichen. Belsazar setzt sich dröhnend in Bewegung. Sarber schreit, wirbelt herum, will auf die Schleuse zurennen, aber ein Stegosaurus stellt sich ihm in den Weg.
„Nein!“ schreit Sarber, als der mächtige Kopf des Tyrannosaurus auf ihn herabsaust. Einen Augenblick später ist alles vorbei.
Rache! Ein süßes Gefühl!
Und das ist nur der Anfang. Der Wronsky-Satellit liegt nur hundertzwanzig Kilometer weit entfernt. Anderswo im Lagrange-Gürtel sind Hunderte von weiteren Wohnsatelliten, reif zur Eroberung. Die Erde selbst ist in Reichweite. Ich weiß noch nicht, wie es geschehen wird, aber ich weiß, daß es geschehen wird, daß es erfolgreich geschehen wird, und ich bin das Werkzeug, durch das es geschehen wird.
Ich strecke meine Arme zu den mächtigen Geschöpfen aus, die mich umgeben. Ich fühle ihre Stärke, ihre Kraft, ihre Harmonie. Ich bin eins mit ihnen, und sie sind es mit mir. Die Große Rasse ist zurückgekehrt, und ich bin ihre Priesterin. Zittert, ihr kleinen Haarwesen!
George R. R. Martin
Und am Wochenende Krieg
WEEKEND IN A WAR ZONE
Es ist Samstag, frühmorgens, und die Sonne scheint nur trübe durch die Wolken. Sie geben die Gewehre aus. Wir stehen draußen, im Bereitschaftslager am Rande der Kriegszone, in Reih und Glied und schieben uns langsam durch zentimetertiefen Schlamm. Ich verstehe nicht, wieso sie
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