Kopernikus 6
Leinwand. Sie sah anders aus, als er sie hatte darstellen wollen. Statt wie eine Figur von Parrish zu wirken, glich sie eher einer Schöpfung von Toulouse-Lautrec, hell und fröhlich an der Oberfläche, aber hart und traurig darunter. Zu seinem Erstaunen fand er, daß das Bild richtig war. Seine Augen hatten gesehen, und seine Hände hatten geformt, was sein Bewußtsein nicht bemerkt hatte. Ihre Bemerkung über Langeweile fiel ihm wieder ein.
„Wo wärst du lieber als hier?“ fragte er.
Ihr Seufzen kam aus tiefstem Herzen. „So ziemlich überall. Ich will andere Gesichter sehen, anderes Wetter erleben. Ich würde gern wieder den Nachthimmel sehen. Ich wollte immer schon zu den Sternen fliegen. Nach der Schule wollte ich nach Zulac gehen, aber diese Reise wurde natürlich mit der letzten Laser-Kanone auf Pluto zunichte gemacht.“ Ihre Stimme wurde traurig. „Es war nur zwei Jahre zu spät, um jemals die Sterne besuchen zu können. Statt dessen bin ich hier gefangen.“
Er blickte sie um die Staffelei herum an. „Gefangen? Du kannst doch gehen, wann du willst, oder?“
Sie blickte auf. Ihre Augen waren feucht von Verzweiflung. „Nein, das kann ich nicht. Dies hier ist kein Urlaub, es ist ein Zufluchtsort. Wir haben die Zeit in den letzten sicheren Augenblicken verlassen.“
Wie eine eisige Welle überflutete ihn die Kälte. Der Pinsel in seiner Hand fühlte sich steif an. „Die letzten sicheren Augenblicke vor welchem Ereignis?“
Hero setzte sich gerade auf und streckte sich. Sie schüttelte den Kopf. „Es ist unwichtig. Nichts kann die Tatsache ändern, daß dies eine Party am Ende der Welt ist, und so monoton sie auch sein mag, sie muß weitergehen, weil wir alle zu feige sind, um sie zu beenden.“ Ihr Mund verzog sich zu einer sardonischen Grimasse, die auf ihrem Kindergesicht bizarr aussah. „Willkommen in der Ewigkeit … sofern du die Langeweile aushalten kannst.“
„Hero!“ Es war Electras Stimme, die vom oberen Teil des Strandes nach ihnen rief. „Neil!“
Sie kam aus dem Nebel auf sie zugelaufen, ihr schwarzes Haar wehte hinter ihr her. „Auf der anderen Seite der Bucht ist ein Saurier in den Dünen. Gell stellt ihm gerade nach. Kommt und schaut zu!“
Ein Saurier? Das klang unglaublich, aber wenn er und die Ausflügler hier hereinwandern konnten und ein Trilobit an den Strand gespült wurde, warum sollte da nicht auch ein Saurier auftauchen? „Was für ein Saurier?“
Electra warf ihren Kopf herum. „Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur, daß er gefährlich aussieht. Beeilt euch, bevor es vorbei ist.“
Sie lief wieder davon, und Hero folgte ihr dicht auf den Fersen. Neil starrte ihnen eine Weile lang nach. Visionen eines Tyrannosaurus rex, der aus den Dünen ragte, drängten sich ihm auf, dann folgte auch er.
Er hörte den Lärm, lange bevor der Saurier zu sehen war. Das Zischen und Brüllen der Echse wurde überlagert von den vor Aufregung schrillen menschlichen Stimmen. Neil kam hinter Hero und Electra aus dem Nebel und erblickte eine natürliche Senke, die von drei Dünen umrahmt wurde. Dort unten ragte ein zwanzig Fuß hoher prähistorischer Saurier auf hohen, muskulösen Beinen empor, auf seinem Schwanz abgestützt wie ein Känguruh. Winzige Vorderbeine waren vor seiner Brust gefaltet. Sein Hals schwenkte umher, während er mit furchterregenden Zähnen zischend nach Clell schnappte, der, eine Keule aus Treibholz schwingend, um ihn herumlief. Das Tier sah anders aus als die Gemälde, die angeblich darstellten, wie der Tyrannosaurus ausgesehen hatte, bemerkte Neil. Das war zwar beruhigend, doch es handelte sich trotzdem immer noch um ein Raubtier. Es kauerte sich zusammen, sein Schwanz bebte leicht.
„Um Gotten willen, Clell, hör auf
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