Kopernikus 6
heraufgebracht; zu dieser Jahreszeit war der Verkehr auf dem Fluß immer am dichtesten. Die Bergwerke und Fabriken hatten Hochbetrieb gehabt, ebenso die gigantischen Western-Schiffsbau- und Maschinenfabriken. Addieren Sie das Gewimmel der Bewohner in den sechs größeren Kontrollierten Bezirken, die die Stadt umgaben. Addieren Sie die Stadt-in-der-Stadt der Südverwaltung, die für diese Hemisphäre zuständig war. Addieren Sie die zwanzig Generationen von Vollbewußten des Kombinats in D’kotta, deren körperlose Ego-Muster man im Berg jenes „unzerstörbaren“ mikromolekularen Schaltkreissystems, der Escridel-Brutzentrale, aufbewahrt hatte. (Diese Oberen waren den unwiderruflichen, wahren Tod gestorben, diesmal ohne Hoffnung auf Auferstehung selbst als körperlose Intellekte in einem künstlichen Geistbehältnis: Die Aufzeichnungen ihrer einzigartigen Hirnmuster aus elektrischen, chemischen und psychokybernetischen Rhythmen und Balancen waren zerstört, und Bewußtsein läßt sich nicht aus einem Haufen verschmolzener Schlacke rekonstruieren. Dies traf die Menschen des Kombinats dort, wo sie buchstäblich lebten, und es hatte eine stärkere Wirkung als alles andere). Addieren Sie die Gesamtzahl der beiden einander gegenüberstehenden Streitmächte; alle unsere Leute – sie hatten bereits geahnt, was geschehen würde – hatten sich freiwillig zu einem Himmelfahrtskommando gemeldet. Addieren Sie alle diese Elemente.
Die Summe beläuft sich auf Milliarden und aber Milliarden.
Die Zahl war zu groß, als daß wir sie hätten begreifen können. Unsere Gedanken wälzten sie hin und her, während wir marschierten, und gaben dann auf. Sie war zu groß.
Ich starrte auf Rens Rücken, der vor mir herging, eine beinahe unsichtbare menschliche Silhouette, und versuchte, sie zu der erforderlichen Anzahl zu multiplizieren. Blindlings stolperte ich voran, verloren, versunken unter Tausenden von einzelnen Armen, Beinen, Gesichtern; eine Reihe von Gesichtern, die im Unendlichen verschwammen, und alle schrien – und meine Vorstellungen erreichten die Realität nicht annähernd.
Milliarden.
Wie viele ruheloser Geister steigen aus so vielen Toten?
Wen suchen sie heim?
Milliarden.
Wir waren etwa zwei Stunden unterwegs gewesen, als das Morgenlicht hereinbrach. Es kam ganz unvermittelt, wie gewöhnlich. Wir tasteten uns durch die tintenschwarze, mondlose Nacht von Welt, und nur die Millionen von eisigen Augen des Abends sahen uns, Kristallsplitter von Hexenfeuer, unvorstellbar kalt und fern. Jahrelang hatte ich Nacht für Nacht zu ihnen hinaufgesehen, wie sie ihre unentzifferbaren Hieroglyphen über den Himmel kritzelten, jenseits des menschlichen Fassungsvermögens, und auch jetzt erinnerte der Himmel mich wie stets an eine Computerlochkarte mit weißen Punkten auf schwarzem Grund. Ich blieb eine Sekunde lang auf dem Abhang stehen, schob die Infrarotlinsen zurück und starrte zum Himmel hinauf. Was für ein Programm war dort ausgedruckt, mit Sonnen als Ziffern und Planeten als Dezimalstellen? Eine absurde Frage – ich war früher ein fast ebenso großer Narr wie Sie, mein Böckchen –, aber dies war der erste wirklich verbalisierte Gedanke, der mir gekommen war, seit ich auf jenem Felsen die Nacktheit des Fleisches gesehen hatte, als mein Leben sich selbst in Stücke riß. Noch einmal stellte ich diese Frage, halb auf eine Antwort wartend, und ich sah zu, wie mein Atem sich in fedrige Fetzen verwandelte, dampfend in der silbrigen Kälte der Sterne.
Die Sonne schoß herauf wie ein Meteor. Sie jagte über den Horizont empor mit dieser rastlosen, trügerischen Geschwindigkeit, an die sich auch die Eingeborenen von Welt niemals gänzlich gewöhnen konnten. Neues Licht überflutete uns, blau und hart zu Beginn, und es vertiefte die Schatten und ließ ihre Ränder messerscharf erscheinen. Die Sonne stieg weiter am Himmel hinauf und verschluckte die Sterne, und ein Schwall von wäßrigem Rosa wischte die Nacht vom Horizont. Das Licht vertiefte sich und wurde zu einem sanften Gold. Wir schwebten durch silbernen Dunst, der die buckligen Knie des Berges mit seinen Wirbeln umgab. Ich bemerkte, daß ich lautlos weinte, während ich über den hochaufragenden Grat zwischen Dunst und Himmel dahinmarschierte, und mit einem frischen Hunger sog ich den Morgen in mich hinein und kämpfte dabei mit einem Gedanken, der für meinen Verstand immer noch zu groß war und mir immer wieder trügerisch entglitt, gerade so weit, daß ich ihn nicht zu
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