Kopernikus 7
Nein, sagte hierauf gewöhnlich Sperrle, das ließe sich auch nicht so einfach erklären. Vielleicht würde man infolge der Verwässerung des Gehirns von Alpha die Ursache niemals finden. Wie auch immer. Ganz sicher wisse man jedenfalls, daß Broadnar Alpha in der zweiten Runde zu einem Kampfgeschöpf aufbaute, das sich – kämpfend – bewährte. Ja, war die entrüstete Antwort, aber um welchen Preis! Und was ist das für eine Art, sich zu behaupten! Die übliche, pflegte Sperrle dann zu erwidern, nur nicht so höflich, nur nicht so geschliffen, eben von einem kraftvollen Neuling, dem die feinen Gemeinheiten nicht geläufig sind, der darum die groben Tricks anwendet.
Es gab, nebenbei bemerkt, keinen Besucher, der diese Bemerkung nicht zurückgewiesen hätte. Ich kann mir auch nicht denken, daß es einen Leser geben würde, der sich hierzu bejahend äußern möchte. Aber man möge sich vor Augen halten, dies sind nur Spekulationen von Oberkommissar Sperrle, der sich redlich mühte, einen äußerst komplizierten Fall zu lösen. Was aber, war die weitere Frage, die sich nun einzustellen pflegte, glauben Sie, Herr Oberkommissar, persönlich, war der Grund für den Mord Alphas – oder, ja, ja – des Totschlags von Alpha an Dr. Broadnar?
Nachdem Sperrle mit den Schultern gezuckt hatte, nachdem er seine Daumen breit gespreizt, einen Schluck Kaffee aus der Tasse geschlürft, ein wenig wie ein Affe geblickt, an seiner Brille gerückt, sich endlich nochmals in seinem Sessel gespreizt hatte, pflegte er endlich doch zu sagen: Sehen Sie, irgendwann, bilde ich mir ein, mußte Alpha doch seinen Ziehvater überwinden. Es versteht sich doch ohne weiteres, daß er nicht ewig in Abhängigkeit bleiben konnte. Was uns so erstaunlich und befremdlich erscheint, ist doch bloß die Geschwindigkeit des Prozesses. Aber klar ist, daß Broadnar ihn nicht zweimal narren durfte, auch nicht in bester Absicht.
Ich vermute, daß Alpha, als er zum zweitenmal hinaus ins Leben geschickt wurde und zum zweitenmal nicht zurechtkam – um es milde auszudrücken –, sich auch von seinem Ratgeber, seinem Programmierer, von Broadnar also, emanzipierte. Man weiß nicht, was die beiden in der Waschküche miteinander beredeten, als Alpha von seinem Amoklauf zurückgekehrt war. Die Folgen des Gesprächs aber sind nicht zu bestreiten. Das Blut von Dr. Broadnar spricht seine eigene Sprache. Die zerbrochene Brille ist deutlich.
Was Alpha, pflegte Sperrle die Unterhaltung abzuschließen, nicht klar war und weswegen er und Broadnar letztlich untergehen mußten, war die Tatsache, daß er Broadnar als Gottvater, als Wesen, das seine Entwicklung beendet hatte, akzeptierte. Er hatte nicht verstanden oder konnte noch nicht verstehen, daß auch Broadnar noch voranging. Die Ergebnisse, die Broadnar ihm präsentierte, waren für ihn unverrücklich. Darum – sein Gott war gescheitert – hat er ihn getötet.
Gero Reimann
Chick’s Polis
Eine Frottage auf eine Geschichte von Ambrose Bierce. (Warum soll man eine gute Geschichte nicht zweimal erzählen?)
Bei einer Frottage wird die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes auf ein Stück Papier gerieben oder übertragen. Es handelt sich um die älteste druckgraphische Technik. (Warum soll man in der Literatur nicht auch frottieren?) Ambrose Bierce ist ein Schriftsteller aus Amerika (geb. 1842, 1913 in Mexiko in den Wirren der Revolution verschollen), dessen ätzende short stories bei uns in mehr oder weniger schlecht edierten Anthologien und zerpflückten Ausgaben seiner Werke in zumeist elenden Übersetzungen erschienen sind. Einer, bei dem sich viele Leute bedienen, Ideen klauen, Techniken klauen und nun sogar eine seiner Erzählungen als Gegenstand für eine Frottage abreiben.
Mit Leuten wie Ambrose Bierce oder bei uns etwa Oskar Panizza tut sich die etablierte Literaturkritik und -theorie sehr schwer.
Doch beginnen wir nun endlich zu reiben, und sehen wir, wie sich langsam das helle Papier einzudunkeln beginnt. Und je mehr wir reiben, desto dunkler wird die Geschichte, die das Papier uns erzählt.
Beginnen wir damit, wie die Dunkelheit sich immer mehr auf der Erde ausbreitete. Wie sie sich ausdehnte und immer tiefer in die unterirdischen Anlagen der stolzen Städte hinabkroch.
Auf ihrem Siegeszug verlosch eine Straßenlaterne nach der anderen. Letzte mit Dieselkraftstoff angetriebene Notstromaggregate, tuckernde Motorradmotoren, die die Menschen in ihrer Not umfunktioniert hatten, blieben klopfend
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