Kopernikus 7
war erloschen.
Weit vorne hörte er Dete herumschreien. Die Stimme verhallte dumpf. Wurde abgewürgt.
„Diese Scheiß winde hier unten …“
Er hastete vorwärts und stieß gegen eine Wand. Er hörte sich schreien, und die Wände warfen ihm sein eigenes Gebrüll entgegen:
„Dete, Westphal, wo seid ihr?“
Und er hörte, kaum noch unterscheidbare Laute, weit weg und verzerrt, verschluckt von dazwischenliegenden Tunnelwänden:
„… fin… Streichhölzer …“
Laute können sehr leise sein.
Er hörte das Geräusch seiner Schultern, die an der Wand entlangschabten, an der er herunterrutschte. Er schrie.
Tränen traten ihm in die Augen, in die sich, er hatte sie aus Angst weit aufgerissen, gierig die Dunkelheit hineinstürzte. Und hinter der Dunkelheit lauerte die Stille. Nur der Stein war mildtätig, die Wand, die sich hart, krümelig und sandig ertasten ließ. Er röchelte und spürte, wie seine Arme, er war immer mehr vornübergesunken, langsam den Boden berührten. Er sank in sich zusammen.
Die Dunkelheit hatte ihn umzingelt und eingeschlossen.
Die Stille ließ ihn nur noch das Rascheln seiner Kleidung hören, die sein schnelles Atmen leicht bewegte. Seine Schuhe schabten auf dem sandigen Boden. Seine Knie und Ellenbogen fühlten sich etwas feucht an.
Weit, ganz weit weg, ganz hinten, hörte er Stimmen. Er verstand sie nicht mehr.
Schrei nicht, schien eine mütterliche Stimme ihn trösten zu wollen. Don’t cry. Aber er schrie dennoch. Er stülpte seine Verzweiflung, sein Elend und seine Einsamkeit, seine Wut über seinen ihn verratenden Körper aus sich heraus, er schrie, und all seine Erfahrung, sein ganzes Leben, lag in diesem Schreien fixiert; er schrie und preßte Luft aus den Lungen an seinen Stimmbändern vorbei. Und je mehr er sich verausgabte durch sein Gebrüll, das die Wände des Labyrinthes, in dem er sich verloren hatte, zurückwarfen, desto mehr schienen fremde Mächte von ihm Besitz zu ergreifen und seine Schädeldecke zu durchdringen.
Die Dunkelheit. Die Stille.
Und Ihnen ausgeliefert sein junger, sexuell erregbarer, nach Befriedigung lechzender, zersehnter Körper.
Er schrie sein Elend aus sich raus, mit Pausen, in denen er die Stille fühlte, die keine Antwort mehr zu ihm durchließ. Und schrie röchelnd, verstummend, weil seine Lungen, seine Stimmbänder, sein Körper sich weigerten, sein Geschrei zu formen und hinauszulassen in die ihn hermetisch umgebende Unterwelt.
Sie haben dich nicht im Stich gelassen. Sie sind vielleicht hinter einer Wegbiegung verlorengegangen, gerade in jenem unwägbaren Augenblick, in dem ich es nicht mehr schaffte, Westphals dunkelgrüne Cordjacke zu erhaschen.
Ich bin allein. Der Gedanke war auf einmal da. Er riß die Augen auf und sah nichts. Erlauschte und hörte nur seinen Körper von innen her monoton rauschen. Er rieb sich die aufgerissenen Augen, bis sie schmerzten. Aber die Dunkelheit blieb undurchdringlich. Wieder rieb er mit den Knöcheln der Hände an den Wänden entlang, nur um den Schmerz zu spüren. Über mir die Aula … oder der Sportplatz … oder die Straße. Er wußte keine Richtung mehr. Und unter mir? Immer feuchtere, grundwassergetränkte Erde, immer weniger Sand. Fester und klumpiger wird der Boden, undurchdringlicher und schwärzer. Und ich? Aber ein Ich zu denken fiel ihm zu schwer. Er begnügte sich damit, die Einzelheiten seiner Körperwahrnehmungen zu registrieren. Zusammenhänge konnte er nicht mehr herstellen.
Er richtete sich an der Wand auf, tastete mit den Händen langsam nach oben. Er fand aber keine Unterbrechung in der Mauer. Mit ausgestreckten Händen taumelte er weiter, ließ die linke Hand an der Mauer entlangstreifen. Manchmal hielt er inne, um an dem linken Handknöchel zu lutschen. Durch den Schmerz bewahrte er sich vor Persönlichkeitsverlust, vor Identitätsverlust, vor Realitätsverlust – vor der zunehmenden Kristallisierung seines Körpers. Ein schwarzer Schnee sank ununterbrochen, lautlos hernieder, während er fort und fort ging. Er war in einer Vorwärtsbewegung gefangen. Den Gedanken, den Weg zurück, zu dem Einstiegsloch zu finden, hatte er verworfen. Er glaubte manchmal, sich vorstellen zu dürfen, wie er am anderen Ende dieses unterirdischen Tunnels im Schulhof der Nachbarschule, des Gymnasiums, rauskäme, auftauchte, wo sie ihn, den Sonderschüler, anstarren würden. Sie würden ihn sicherlich wieder ins Dunkel hinabstoßen. Ein Aufstieg war ihm versperrt. Lange glaubte er so unter der Erde
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