Kopernikus 7
voraus. Aus ihren Kiefern tropfte Gelee herab – es war ein roter, süßer, den Atem nehmender Saft. An einer Kreuzung im Netz hielt die Spinne an. Karin nahm eine große Nadel aus der Hutschachtel heraus und feuchtete sie mit der Zunge an. Die Nadel blitzte auf, als die Spinne herunterkam.
Zwei, drei rote Blutstropfen fielen in den sich auftürmenden Kristall. Der Kristall, der noch eben in eisigem Blau erschien, wurde an seiner Oberfläche matt. Der Wind, der jetzt wieder blies, zerriß das Netz. Die Spinne stürzte mit in der Luft rudernden Beinen von dem Netz herab. Die Urmiel löste sich aus dem Zentrum des fortschwingenden Netzes heraus. Ihre Düsen flammten auf. An Bord des Schiffes wurde Licht gemacht.
Tobias hatte sich auf der Seite wie ein schlafender Hund zusammengerollt. Von irgendwo kam ein Sturm auf, der grauen Sand in seine Kabine blies. Während Tobias schwer atmend schlief, häufte sich der Sand über ihm, bis von dem Jungen nur noch ein Auge, ein Ohr, eine Haarsträhne übrigblieb.
Manche Erinnerungen, von denen wir glauben, daß sie eigentlich vergessen sind, sitzen tief in uns fest. Vielleicht war es ein zufälliges Wort, vielleicht hatte der Vater vom letzten Theaterbesuch erzählt. Sicher ist, Tobias’ Phantasie hatte sich über dem Sandmann, der im Theater aufgetreten war, gerade deswegen, weil er ihn nicht selbst gesehen hatte, erhitzt.
Während die Urmiel flüsternd durch den Zwischenraum strich, zeigte sich über dem Sichtfenster, das zum Flur hinausging, ein graues, wie von einer schwarzen Maske halb verdecktes Gesicht. Der Sandmann hielt sein Gesicht schief, fletschte sein Gebiß, runzelte die Stirn, als hätte der kleine Tobias in seinen Gedanken Revue passiert.
Dann raschelte es an der Tür, die in den Schatten der dämmernden Kabine zurückwich. Der Sturm, der aus den Wänden kam, verschärfte sich, pfiff hohl und kalt. Reif senkte sich über die Sandverwehung und über Tobias herab, und der Sand strich auf den Flur und klemmte die geöffnete Tür fest.
Der Sandmann nahm seinen Sack von der Schulter herab und trat ans Bett heran. Mit einem gläsernen Auge und einem höhnischen Blick sah er auf Tobias hinab – so, als hätte er einen schönen Gruß an dessen Eltern bestellt. Der Junge unter dem Sand regte sich. Mit dem einen geöffneten Auge hatte er auf den Sandmann geblickt. Er rief etwas, aber das Geräusch wurde vom Pfeifen des Windes zugedeckt.
Mit einer fast nachlässigen Gebärde hatte der Sandmann, als sei dies eine Routineangelegenheit, Tobias mit zwei, drei Griffen in den Sack gesteckt. Als er durch die Türe glitt, lachte er höhnisch auf. Tobias, in dem Sack, war es bitterkalt. Als der Sandmann gebückt am Badezimmer vorüberkam, fiel aus der halb geöffneten Tür ein gelbes Licht.
Wieder, als Tobias auf dem Rücken des Sandmanns um sich schlug, lachte der Maskierte auf. „Hä, hä“, bellte seine rauhe Stimme. Dann erlosch das gelbe Licht, der Sandmann huschte den Gang hinab, es wurde wieder kalt, und bittere Tränen rollten über Tobias’ Gesicht.
Manchmal denkt man, daß Erwachsene große Kinder sind. Wenn man jemanden wiedertrifft, den man als Kind gekannt hat, so fallen einem die altbekannten, vielleicht vergröberten Züge des Kindes auf. Es ist ja klar, daß jede Person die Summe ihrer Erfahrungen ist und daß also der kleine Mann und die kleine Frau in der größeren Ausgabe enthalten sind.
Gleichwohl stürzte die Mutter Wagenseil in der Zeit, da die Urmiel im Spinnennetz gefangen war, wie einen riesigen Abhang, auf dem ihre gesammelte Erfahrung, ihr gesammeltes Wissen wuchs – hier ein fröhliches Lachen, eine zarte Regung da, geballte Energie fast an jedem Ort –, hinab. Es ist seltsam, wie leicht sich doch die psychische Sperre, die uns vom Abgrund trennt, lösen läßt. Es scheint, daß unter unseren Füßen ein schwankender Boden liegt, den man schon mit einem unachtsamen Schritt durchbrechen kann – hingegen scheint es ein schier endloser Kampf, wenn man wieder an Höhe gewinnen will.
Es versteht sich, daß Irene Wagenseil nackt in die Tiefe gefallen war. Als sie sich auf dem Boden regte, lag sie zwischen feuchten Pilzen da. Ein Schmetterling taumelte durch die Luft über ihr. Ein Dutzend roter Weinbergschnecken kroch – da sie noch nicht ganz bei Sinnen war – mit weißer, schleimiger Spur feucht über sie hinweg. Da schrie sie auf.
Ein riesiges Ding senkte sich, während sie auf dem Rücken lag – ein Mann? ein Tier? – auf sie
Weitere Kostenlose Bücher