Kopernikus 7
seiner Lesart, nach wie vor sein Gottvater. Mich wird er nicht antasten dürfen. Bin gespannt, wie er sich draußen entwickelt.“
In der Nacht waren zahlreiche Meldungen im Polizeirevier eingelaufen, von denen zuerst nicht klar war, daß sie zu ein und demselben Vorgang gehörten. Sperrle, der sich über der sechsten Tasse Kaffee wach hielt, ließ sich die Vorgänge, zusammenhängend und geordnet, kommen. Im Ostertorviertel war es zu einer Schlägerei gekommen. Man hatte zuerst angenommen, daß es sich um Kernkraftgegner handelte, die sich mit Befürwortern angelegt hatten. Fensterscheiben waren zu Bruch gegangen. Ein Auto lag auf der Seite. Ein Modegeschäft brannte.
Aus einer Kneipe im Schnoor wurde berichtet, ein seltsamer riesiger Mann sei gegen ein Uhr morgens in das Lokal eingedrungen. Er habe einen sehr wirren Eindruck gemacht und habe die Garderobe eingerissen. Zwei, drei Gäste, die protestierten, habe er über die Theke geworfen. Es wurde berichtet, daß er vor einem Tisch mit zwei Mädchen verharrte. Bei ihrem Anblick schien er nachdenklich geworden zu sein. Als die Polizeisirene draußen aufklang, war er geflüchtet.
Tatsächlich hatte die Spezialeinheit, ohne zu wissen, um welch bedeutenden Fall es sich handelte, noch in dieser Nacht – sie war unbeschäftigt – Jagd gemacht auf Alpha. In den Wallanlagen, die er in Richtung Schwachhausen überquerte, war es zu einem Zusammenstoß gekommen. Einen der Polizisten, der ihn mit den Autoscheinwerfern geblendet hatte, hatte er zerrissen. Er selbst hatte auch einige Kugeln eingefangen, war aber letztlich unversehrt entkommen.
Über das Ende Alphas wurde in der Presse ausführlich berichtet. Wie bekannt ist, wurde Alpha in einer großen Treibjagd, nachdem man ihn im Hafen ausfindig gemacht hatte, auf die Kaimauer gegenüber der Insel getrieben. Man weiß nicht, was in ihm vorging, als die Polizeikette ihn vor sich hertrieb. Aber es dämmerte wohl in seinem zerrissenen Schädel, daß die Übermacht zu groß war. Anstatt sich zu ergeben, folgte er dem letzten Programm in seinem Schädel und sprang ins Wasser. Es ist eine erstaunliche Willensleistung, wie er es schaffte zu ertrinken, ohne daß sich sein Überlebenstrieb aktivierte.
Problematisch an seinem Tod war für die Sicherungsgruppe Bonn – sie verfügt über wissenschaftliche Spezialisten – die Art, wie er umkam. Random, ihr Führer, fluchte, daß dies die einzige Art sei, auf die er nicht sterben durfte.
„Aber warum?“ fragte ihn Sperrle, den, nachdem er die Dinge in ihrer Entwicklung verfolgt hatte, etwas wie Mitleid mit dem großen Manne überkommen hatte.
„Weil dadurch sein Gehirn volläuft“, antwortete Random.
„Volläuft?“ echote Sperrle und wischte sich die Augen, die in der Kälte zu tränen begonnen hatten.
„Volläuft“, bekräftigte Random. „Sie müssen verstehen, daß wir derart wertvolle Gehirne analysieren. Wir schütteln die Gedächtnispulver aus ihnen und ziehen mitunter wertvolle Schlüsse. Diese Möglichkeit reduziert sich, wenn das Gehirn verwässert.“
„Aha“, sagte Sperrle.
So konnte Sperrle – er war im Zuge der Ermittlungen zum Oberkommissar aufgestiegen – über den letzten, ihm noch unklaren Gesichtspunkt, warum Alpha seinen Herrn und Meister getötet hatte, nur spekulieren. Wenn man ihn fragte, war seine Lieblingsthese, daß Broadnar sein Geschöpf nach und nach in die Freiheit schickte. Erst, pflegte er zu sagen, ließ er ihn naiv und unschuldig, fast wie ein Kind, hinausgehen. Aber warum das? So wurde es ihm gewöhnlich an dieser Stelle entgegengehalten.
Damit, meinte dann Sperrle, ihm die Welt nicht von vornherein verstellt war.
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