Kopernikus 7
gerieben oder übertragen. Es handelt sich um die älteste druckgraphische Technik. (Warum soll man in der Literatur nicht auch frottieren?) Ambrose Bierce ist ein Schriftsteller aus Amerika (geb. 1842, 1913 in Mexiko in den Wirren der Revolution verschollen), dessen ätzende short stories bei uns in mehr oder weniger schlecht edierten Anthologien und zerpflückten Ausgaben seiner Werke in zumeist elenden Übersetzungen erschienen sind. Einer, bei dem sich viele Leute bedienen, Ideen klauen, Techniken klauen und nun sogar eine seiner Erzählungen als Gegenstand für eine Frottage abreiben.
Mit Leuten wie Ambrose Bierce oder bei uns etwa Oskar Panizza tut sich die etablierte Literaturkritik und -theorie sehr schwer.
Doch beginnen wir nun endlich zu reiben, und sehen wir, wie sich langsam das helle Papier einzudunkeln beginnt. Und je mehr wir reiben, desto dunkler wird die Geschichte, die das Papier uns erzählt.
Beginnen wir damit, wie die Dunkelheit sich immer mehr auf der Erde ausbreitete. Wie sie sich ausdehnte und immer tiefer in die unterirdischen Anlagen der stolzen Städte hinabkroch.
Auf ihrem Siegeszug verlosch eine Straßenlaterne nach der anderen. Letzte mit Dieselkraftstoff angetriebene Notstromaggregate, tuckernde Motorradmotoren, die die Menschen in ihrer Not umfunktioniert hatten, blieben klopfend stehen. Der Strom der Elektronen, den die Aggregate in die schlanken, plastikumschlossenen Bündel der Kabel speisten, versiegte geräuschlos. Lampen verloschen.
Die Dunkelheit kroch weiter, lauerte geduldig, wo sich Holzfeuer in sie hineinfraßen, ließ sich Zeit und kroch dann langsam in die Asche, um die letzten, dunkelrot aufglühenden Funken zu ersticken und in sich zu begraben.
Die Dunkelheit war mächtig, war allgegenwärtig, und nichts konnte sie mehr aufhalten auf ihrem Siegeszug. Die Erde versank in ihr. Lautlos.
Der Junge, der in einer Ecke in dem unterirdischen Labyrinth der Tunnel und Abwässerkanäle zusammengekauert dasaß und vor sich hin wimmerte, weil ihn die Augen schmerzten, mochte 16 Jahre alt sein.
Seine Gesichtshaut fühlte sich feucht an, und an einigen Stellen wurde sie von Pickeln verunziert.
Im Dunkel, welches keine Intervalle mehr unterbrach, er wußte nichts mehr von Nacht und Tag, zu lange schon trieb er sich in den Gängen unter der Stadt herum, verdämmerte sein aufbegehrendes junges Leben in rauschhaften kurzen Exzessen, in denen er sich mit halluzinierten Bildern die Sinne überfluten und sich damit zu betäuben versuchte.
Er riß die Augen auf, und das Dunkel darin schmerzte ihn. Manchmal lehnte er den Kopf gegen eine Wand und versuchte sich auf die Zeit zu konzentrieren, wo er noch etwas erkennen konnte. Wie in einem Film führte er sich seine Erinnerung vor. Nur daß die Regie zeitweilig zusammenbrach und die Bilder wirr ineinanderstürzten. Seine bisherige Lebenszeit erschien ihm seltsam verzerrt und verkürzt. Es war wenig, was sich seinem Körper und seinem Geist eingeprägt hatte. Es fiel ihm schwer, aus seinen Programmen eine Zukunft zu bilden. Grob sprang immer wieder das aufgedunsene Säufergesicht des Mannes hervor, der mit der Mutter zusammenlebte, daneben, an den Rändern verdeckt und ausgerissen, das ausgezehrte, geschminkte Gesicht der Mutter.
Er hörte ein Geräusch am Ende des Ganges und packte seine Waffe, eine vorn spitz zugefeilte Eisenstange, fest mit beiden Händen. Er lauerte. Bewegungslos, gespannt, erregt.
An einem regnerischen, kalten Tag im November verließ ein sechzehnjähriger Sonderschüler das Kleingartenhaus seiner Eltern. Die
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