Kopernikus 7
starrten aus der Dunkelheit. Sie verstand nicht, woher das Seufzen und Stöhnen, gleich neben ihr, gleich um die Ecke, kam.
Als sie wieder in den Schlaf, auf den Boden des Brunnenschachts hinab, fiel, zerrieb sie ihre Kiefer in einem malmenden Geräusch. Sie lag in ihrem Bett, in einem gelben Licht, die kleinen Hände zu trotzigen Fäusten geballt. Manchmal trat Schaum über ihre Lippen aus. Das Spinnennetz über ihrem Kopf strich immer wieder auf die Kissen herab. Eine Pflanze wuchs in dem Bettkasten neben Karin auf – groß, grün, schlürfend blähte sie sich über einem fleischigen, roten Kelch.
Entgegen dem Befehl ihres Vaters war sie – noch als kleines Kind – zum Fenster hinausgeschlüpft. Sie stand auf dem Fenstervorsprung in dem von unten heraufdringenden Licht hoch über der summenden Stadt. Als sich die Erde drehte, wurde ihr schwindlig. Der Mond hatte sich als große rote Scheibe über den Himmel bewegt. Ein Paar Krähen segelte mit krächzenden Rufen unter einem dünnen Wolkensaum hinweg.
Auf dem gläsernen Dach, unter dem ein Treibhaus lag, hob Karin ein weggeworfenes Spielzeug auf – ein von Tobias gebasteltes Projektil, eine Spindel, ein schlankes Raketending. Das Projektil erzitterte in ihrer Hand. Wie wenn man in die Zukunft sehen kann, erkannte sie, wie sich das Projektil ihrer Hand entwand. Es stieg steil über den Dächern auf, bohrte sich in den Wolkenschleier hinein und erstrahlte zuletzt als weißer Punkt, der um die Erde lief.
Sie öffnete die an der Spitze der Urmiel angebrachte Luke mit einem Ruck. Die Luft, die ihr entgegenschlug, war frisch und rein. In einem Luftloch kletterte sie durch die Luke auf die Außenwand des Schiffs hinaus. Unter ihren bloßen Füßen lag die Schiffshülle nackt und kalt. Von der Spitze des Schiffs, von dem dort angebrachten Antennenwald, war ein feines, glitzerndes, silbriges Netz weit hinaus zu den entferntesten Sternen gespannt.
Vorsichtig, mit nackten Zehen, trat Karin auf ein dickes Tau hinaus, das direkt von der Luke zu den Sternen lief. Das Tau unter ihren Füßen war feucht und kalt. Es zitterte unter der kleinen Last. Tauperlen fielen von ihm ab. Das entfernte Spinnennetz leuchtete in roten und blauen Farben auf. Kristall regnete vom Himmel herab. In dem Kristall war jetzt ein dunkler Leib zu sehen – ein unförmiges Ding, das erstaunlich behende über die Fäden herunterglitt.
Dann wuchsen aus dem Leib seidene Härchen auf, bald ein ganzer klebriger, finsterer Wald. Die Spinne schickte ein leises Zischen voraus. Aus ihren Kiefern tropfte Gelee herab – es war ein roter, süßer, den Atem nehmender Saft. An einer Kreuzung im Netz hielt die Spinne an. Karin nahm eine große Nadel aus der Hutschachtel heraus und feuchtete sie mit der Zunge an. Die Nadel blitzte auf, als die Spinne herunterkam.
Zwei, drei rote Blutstropfen fielen in den sich auftürmenden Kristall. Der Kristall, der noch eben in eisigem Blau erschien, wurde an seiner Oberfläche matt. Der Wind, der jetzt wieder blies, zerriß das Netz. Die Spinne stürzte mit in der Luft rudernden Beinen von dem Netz herab. Die Urmiel löste sich aus dem Zentrum des fortschwingenden Netzes heraus. Ihre Düsen flammten auf. An Bord des Schiffes wurde Licht gemacht.
Tobias hatte sich auf der Seite wie ein schlafender Hund zusammengerollt. Von irgendwo kam ein Sturm auf, der grauen Sand in seine Kabine blies. Während Tobias schwer atmend schlief, häufte sich der Sand über ihm, bis von dem Jungen nur noch ein Auge, ein Ohr, eine Haarsträhne übrigblieb.
Manche Erinnerungen, von denen wir glauben, daß sie eigentlich vergessen sind, sitzen tief in uns fest. Vielleicht war es ein zufälliges Wort, vielleicht hatte der Vater vom letzten Theaterbesuch erzählt. Sicher
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