Kopernikus 7
beinahe zurückgetorkelt. Man betrachtet ja alle Dinge auch zugleich mit einer bestimmten Erwartungshaltung, und es ist, als hätte jemand von außen in den Kopf eingegriffen, erfüllt sich diese nicht. So ging es Kahl und Strobel.
Sie standen am Eingang eines riesigen Labors. Das Labor war so groß, wie man es unter einem so verhältnismäßig schmalen Haus wie dem der Franziusstraße 112 niemals erwarten durfte. Aber mehr noch als seine Ausdehnung war sein Inhalt verblüffend. Schon auf den ersten Blick konnten die beiden Polizisten an den Wänden riesige Brutkammern sehen, in die von der Decke Schläuche, die aus Nährtanks liefen, hingen. Die Kammern, in denen grün erleuchtete Nebel spielten, waren durchsichtig und zum Teil offen.
Auf ihrem Boden hingen menschliche Gestalten unterschiedlicher Größe, in seltsamer Proportion und Verzerrung. Da wuchsen Zwerge und Gnomen, absonderliche Gestalten mit zwei Köpfen, Kreaturen, die aus Mensch und Tier zugleich bestehen mußten und von denen niemand geträumt haben würde, daß sie lebensfähig wären. Es war fast, als ob man das in den gläsernen Tanks beginnende Leben sich regen sehen konnte. Es war, als hätte hier eine Mischung aus Reptil und Mensch gezüngelt, und als öffne dort ein Wolfsmann seinen Rachen.
Decke und Wände, wo Flüssigkeiten in ihren grünen Behältern schäumten, schienen in Bewegung. Man hatte den Eindruck, als setze sich in ihnen ein ungeheurer Regen fort, der von draußen hereingefallen war und dem man nur einige Nährstoffe beigegeben hatte. Es versteht sich, daß das Brummen, das die beiden Polizisten schon in der Garagenabfahrt vernommen hatten, aus diesem Räume stammte. Es drang hervor hinter einer riesigen metallenen Tafel, an der unzählige farbige Lichter, Zeiger und Schalter angebracht waren; von den Zeigern schwankten einige unter ihren gläsernen Fenstern, während in lichterfüllten Glasröhrchen Flüssigkeiten schäumend auf und nieder stiegen.
In der Mitte des Labors war ein riesiger leerer Kasten mit aufgeklapptem gläsernem Deckel zu erkennen. Der Kasten ruhte auf vier Beinen, und aus seiner Kopfseite liefen unzählige Drähte, die im Boden unter einer Metallplatte verschwanden. Neben dem Kasten lag ein kleiner Mann in einem braunen, nadelgestreiften, verschlissenen Anzug auf dem Boden. Auf seinem grauen Haupthaar war Blut geronnen. Seine Augen, die zu der Türe starrten, waren gebrochen. Über ihn beugte sich ein Mann, der fast zwei Meter messen mußte. Der große Mann schien an dem kleinen Mann zu zerren. Mitunter drangen aus seiner Kehle unartikulierte Laute. Dann hatte er die beiden Polizisten gesehen.
Sperrle war ein Polizist, der seinen Beruf liebte. Er war, als er sich zu seinem Beruf entschlossen hatte, von der Überlegung ausgegangen, daß es reizvoll sein konnte, in die Beweggründe, in die Tiefen – wie er heutzutage sagen würde –, in die Abgründe der Menschen, in das also, was sie antrieb, hinabzusteigen. Es versteht sich, und darüber war er sich im klaren, daß sich in diesem Bemühen, andere Menschen und ihre Motive in den kriminellen Grenzfällen, worin die Dinge kulminierten, zu verstehen, eine eigene Unsicherheit verbergen mußte, eine Ungewißheit über sich selber, die er abzudecken suchte, indem er sich kriminaltechnisch in andere Seelen kniete.
Das soll aber nicht bedeuten, daß er jeden Tag und jede Stunde, daß er jeden Fall, den er bearbeiten mußte, liebte. Ganz im Gegenteil. Die Situationen, aus denen sich für ihn – in der emotionalen Tiefe – etwas herausholen ließ, waren selten. Und er hatte vor sich selbst schon
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