Kopernikus 9
„Sie wollen sehen, ob wir uns aus der Fassung bringen lassen, sie wollen unsere Reaktionszeiten testen. Schließlich ist bei den modernen Kriegsführungskonzepten heute alles eine Frage von Reaktionszeiten.“
„Verteidigungskonzept“, verbessert Obersen. „In einer Strategie der Abschreckung gibt es nur Verteidigungskonzepte.“
„Verteidigungskonzepte, meinetwegen.“
Herbstmann stößt mit dem Fuß gegen die Verankerung des Sessels am Kontrollpult und verzerrt vor Schmerz das Gesicht. Jetzt erst denkt er wieder an seinen verstauchten Fuß. Er versucht zu scherzen: „Mit Tanzen wird es wohl nichts am Wochenende.“
Fischer reagiert. Es ist seine Aufgabe zu reagieren. Er ist zuständig für die kleinen und großen Wehwehchen der Besatzung während des Einsatzes. Er darf und kann kleine operative Eingriffe vornehmen, und er beaufsichtigt die Betäubungs- und Schmerzmittel, die nur bei schweren und schwersten Verletzungen verabreicht werden dürfen, um die Zeit bis zur Einlieferung des Opfers in ein Lazarett – oder in die Leichenhalle – zu überbrücken.
Fischer legt seine Daumenkuppe in eine Mulde am Sanitätsschrank und identifiziert sich. Die Türen des Schrankes gleiten auf.
„Das wollen wir uns doch mal ansehen“, sagt er mit dem typischen beruhigend-bedrohlichen Unterton, den hauptberufliche Ärzte mit eingeschliffener Perfektion beherrschen. Er kramt in dem eher chaotisch wirkenden Inneren des Sanitätsschrankes herum und kehrt dann mit etlichen Utensilien zu dem wartenden Herbstmann zurück.
Der Stiefel will nicht recht vom Fuß, Fischer muß Gewalt anwenden. Der kleine, blonde Herbstmann, der heimliche Poet, der eben dieses Geheimnis nur mit Fischer teilt, beißt die Zähne zusammen und verzieht keine Miene. Wenn er will, ist er offensichtlich hart im Nehmen.
Während Fischer fast zärtlich den Socken vom geschwollenen Fuß streift, mit besorgter Miene den schwammig-geschwollenen Knöchel betastet und nach Vereisungsspray und einem Stützverband sucht, aktiviert Herbstmann nacheinander verschiedene Bildschirme über dem Kontrollpult, die ihm zeigen sollen, was im Moment drinnen und draußen vor sich geht:
BILDSCHIRM I:
Lichterfeld versieht weit hinten im C HAMÄLEON seinen Dienst. Vornübergebeugt blickt er angestrengt auf das grün fluoreszierende, kreisrunde Schirmbildrohr, das die verarbeiteten Impulse der herausgefunkten Peilstrahlen der Rundsichtanlage abbildet und exakt anzeigt, ob, von wo und in welcher Entfernung sich unmittelbar optisch nicht sichtbare Objekte dem C HAMÄLEON nähern. Wenn es feindliche Flugzeuge sind, die geortet werden, dann sind sie als Leuchtpunkte und Ziel erfaßt; und wenn Lichterfeld den Zeitpunkt für gekommen hält, wird er sie mit den „Babys“, den Luftabwehrraketen oben auf dem Dach des C HAMÄLEON , vom Himmel holen.
Lichterfeld ist dafür bekannt, daß er seine Arbeit überaus ernst nimmt, er ist peinlich genau. Oft, wenn die anderen die Kaserne verlassen, um die wenigen Vergnügungsmöglichkeiten der Umgebung zu nutzen, ja, selbst an Wochenenden, nimmt er seine Bücher und bildet sich mit einer geradezu verbissenen Disziplin fort. Er kann sämtliche Dienstanweisungen auswendig, und das will etwas heißen bei der Flut von Anweisungen, die oben produziert werden. Bei den Offizieren ist er nicht überall beliebt, weil er häufig mehr weiß als sie, und manche warten nur auf eine Gelegenheit, es ihm zu zeigen. Die meisten aber wahren einen vorsichtig respektvollen Abstand zu ihm.
Das aber ist gut für die Mannschaften, denn Lichterfelds Wort hat Gewicht bei den Offizieren. Er scheut sich auch nicht, sich zum Fürsprecher seiner Kameraden zu machen. Aber dennoch mißtraut man ihm, viele verdächtigen ihn, er wolle doch nur Karriere machen, würde sich bei der ersten Gelegenheit auf die andere Seite schlagen.
Und so ohne Hand und Fuß ist diese Vermutung nicht, muß Herbstmann zugeben, denn Lichterfelds Hauptproblem ist der Umgang mit Geld. Er ist bis über beide Ohren verschuldet, seine Finanztransaktionen sind abenteuerlich. Oft sind es nur seine Gewinne im Spiel, die ihn über Wasser halten. Es wird der Tag kommen, wo er einfach befördert werden muß.
Aus Lichterfeld könnte einmal ein Kommandant werden, vielleicht ein Kommandant wider Willen, aber ein Kommandant. Und so achtet man ihn, aber man liebt ihn nicht.
Herbstmann jedoch kennt seine verzwickte und verzweifelte Lage, die ihn, den Gefangenen seiner finanziellen Verstrickungen, in
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