Kopernikus 9
dienstlich. Aber noch auf keiner Übung ist Sticher ein Fehler unterlaufen. Natürlich will er überall der Beste sein. Läßt sie auch schon mal vierundzwanzig Stunden durchmachen ohne Schlaf, schläft aber auch selbst nicht in dieser Zeit. „Übungen können nicht hart und realistisch genug sein!“ pflegt er bei solchen Anlässen zu sagen. Da stellt man besser keine Fragen mehr. Außerdem hat der Mann etliche harte Tests hinter sich und muß alle sechs Monate zur physiologischen und psychologischen Untersuchung. Die oben meinen, es sei schon alles in Ordnung bei ihm. Aber kann nicht zwischen zwei Untersuchungsterminen etwas Unvorhergesehenes passieren? Doch er arbeitet wie ein Automat, funktioniert noch einwandfrei, aber eben wie ein Automat. Das jedenfalls ist Fischers Meinung, aber er hat sie bisher für sich behalten.
Sind sie nicht alle irgendwie Automaten, wenn sie im Dienst sind? Halbautomaten zumindest? So wie Herbstmann und Obersen jetzt?
Herbstmann und Obersen führen den Check durch.
„Treibstoff?“
„Okay!“
„Solare Zusatzenergie?“
„Okay!“
„Querstellungsfunktion der Ketten?“
„Okay!“
„Tauchversiegelung?“
„Okay!“
„Automatischer Munitionsnachschub?“
„Okay!“
„Radarschirm?“
„Okay!“
„Schwenkvorrichtung Geschützturm?“
„Okay!“
„Kameras innen und außen?“
„Okay!“
„Raketenverankerung?“
„Okay!“
„Die Piranhas?“
„Okay!“
Und …
Und …
Und …
Es dauert vier Minuten und fünfzehn Sekunden, dann sind sämtliche Systeme einschließlich der komplizierten Elektronik in einem Akt höchster Konzentration und präziser Arbeit getestet. Obersen meldet den Abschluß des Checks per Mikrofon an Sticher. Stichers Stimme bellt aus dem Lautsprecher zurück und gibt den Befehl zum Start. Der Kommandant hat inzwischen die Daten für die einzuschlagende Richtung einprogrammiert, die ihm chiffriert von der Leitzentrale durchgegeben worden ist. Die Steuerung erfolgt dann automatisch, Sticher kann aber den Koloß auch manuell dirigieren. Das ist sehr schwierig, und nur er allein kann es.
Ein Vibrieren ergreift den Corpus des C HAMÄLEON , und einen Moment könnte man denken, die ganze Erde bebt und zittert. Dann, fast unmerklich, rollt die mobile Festung an, auf ein unbekanntes Ziel zu.
Herbstmann sieht von den ihn umgebenden Armaturentafeln auf, den Tafeln mit dem Gewirr pulsierender Lichtpunkte, den unzähligen Schaltern, Knöpfen und Meßgeräten. Zu Obersen gewandt, fragt er: „Wohin geht es wohl diesmal?“
„Jedesmal woanders hin“, brummt Obersen lapidar und feuert den Stahlhelm, den er bis jetzt noch nicht abgenommen hat, mit einem gezielten Wurf in die seitlich in die Wand eingelassene Koje, in der er schlafen wird.
Sie alle werden in den Kojen in den nackten, stählernen Seitenwänden schlafen, immer bereit, mit ein paar schnellen Sätzen zum Kontrollpult zu hechten. Ohnehin wird – wenn überhaupt – umschichtig geschlafen. Bequem ist es nicht, in diesen schmalen Kojen, da wird nicht süß geträumt. Trotz der ungeheuren Ausmaße des C HAMÄLEON ist sehr wenig Platz für die Menschen innerhalb der mobilen Festung, denn die Waffensysteme und Versorgungseinrichtungen benötigen fast jeden Quadratmeter für sich. Nur einen Luxus gibt es: In den Kojen hängen Kopfhörer, mit der Musik nach Wunsch vom Band gehört werden kann, und es gibt einen Video-Flachbildschirm am Fußende, über den manchmal Kurzfilme flimmern dürfen. Militärpsychologen haben festgestellt, daß das die „Motivation“ der Soldaten günstig beeinflußt. Aber ein Hotel ist das C HAMÄLEON mit Sicherheit nicht, auch besteht – so ein gern zitiertes Bonmot von Lichterfeld – der wesentliche Unterschied zwischen einem Hotel und der Armee darin, daß man sich in ein Hotel freiwillig begibt.
Während Obersen sein Gepäck vom Rücken schnallt – bisher war noch keine Sekunde Zeit, dies zu erledigen – und zu dem im Boden eingelassenen Depot für seine Ausrüstung schlurft, sagt er: „Bin mal gespannt, was sie sich bei dieser Übung alles einfallen lassen werden.“
„Ich auch“, ergänzt Fischer, der sich jetzt ebenfalls des unbequemen Gepäcks entledigt. „Als wir letztes Mal in dem engen Tal steckten und sie plötzlich den perfekt simulierten Luftangriff auf uns losließen, dachte ich schon, sie wollten uns fertigmachen. Im Ernstfall hätten sie die Bomben sicherlich nicht danebengeworfen.“
„Reine Nervensache“, sagte Herbstmann.
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