Kopernikus 9
als sie ihn fragt: „Wollen wir?“ Und er fühlt sich nicken. Sie überwinden den Zaun und rennen über die Wiese, ein milchiger Mond gibt ausreichend Licht, in der Ferne bellt wütend ein Hund. Ihr Ziel ist der Turm, den sie ohne Schwierigkeiten erklimmen, die Tür oben ist nur angelehnt. Hinter der Tür wartet die große Rutsche. Barbara setzt sich nach vorn, er umklammert sie von hinten, berührt wie zufällig ihre Brust, lacht und gibt den Anstoß. Links, rechts, rechts, links, auf, nieder, auf, links … Der Wind pfeift ihnen ins Gesicht und -
Fischers Stiefel knallen hart auf das stark gepanzerte Stahldach des C HAMÄLEON . Die Röhre hat ihn ausgespuckt wie einen unverdaulichen Fremdkörper. Die Sirenen heulen noch immer. Fischer fängt die Wucht des Aufpralls vorschriftsmäßig mit einer seitlichen Rolle ab, um das Gepäck auf dem Rücken zu schonen. Sofort rennt er hinter den anderen her, vorbei an den hinten in einem Bündel installierten Luftabwehrraketen, die wie orgasmusbereite, erigierte Penisse in die Höhe starren, vorbei an dem riesigen Geschützturm in der Mitte und dem schon kreiselnden Radarschirm. Flüchtig sieht er, wie Herbstmann vorne humpelt, wahrscheinlich hat er sich beim Aufprall den Fuß verstaucht. Flüchtig hört er auch das Geschrei und das Getrampel der anderen Soldaten auf den Dächern ihrer C HAMÄLEONS .
Obersen und Lichterfeld sind schon in der Luke verschwunden, die ins Innere führt, als Fischer den humpelnden Herbstmann erreicht, der etwas gequält lächelt und ihm mit einer einladenden Geste den Vortritt läßt. Beide klettern die Stahlleiter herunter, es riecht nach Öl, Benzin und grabesdumpfer Muffigkeit. Herbstmann verschließt als letzter mit geübten Handgriffen die Luke, die von diesem Zeitpunkt an nur noch von innen geöffnet werden kann.
Kurz darauf stehen sie alle stramm im trapezförmigen Betriebs- und Kontrollraum. Sie stehen stramm vor dem Kommandanten. Kommandant Sticher schläft in seinem C HAMÄLEON . Er ist allzeit bereit, steht breitbeinig und fett, aber mit tadellos sitzender Uniform mitten im Raum, als habe er schon eine Ewigkeit auf sie gewartet.
Lichterfeld knallt anstelle des Nachzüglers Herbstmann die Hacken zusammen, läßt seine Hand zum Gruß an den Rand des Stahlhelms schnellen und meldet: „Besatzung C HAMÄLEON in vollzählig versammelt. Herbstmann Verstauchung!“
Sticher, mit lässig vor der Brust verschränkten Armen und gerötetem Gesicht, brüllt: „Ihr seid wieder nicht die ersten!“
Und dann:
„Herbstmann, Fischer, Kontrollraum! Lichterfeld Luftabwehr! Obersen Verfügung!“
Ohne ein weiteres Wort macht Lichterfeld kehrt und rennt nach hinten davon. Er wird dort die Luftabwehrraketen für die hoch fliegenden Bomber übernehmen. Er arbeitet mit Radar und ist im Notfall bezüglich der Abschußentscheidung weitgehend autonom.
Sticher erklimmt, erstaunlich behende, eine Leiter an der Wand, der Gang dahinter führt zur Kommandozentrale, die er allein besetzt.
Die Kommandozentrale ist der einzige Ort, der mit der Außenwelt in Verbindung steht. Hier gehen die Befehle von oben ein, die Sticher weiterleitet. Hier macht er Meldung nach draußen, zur Leitzentrale, die wiederum mit dem Generalstab in Verbindung steht. Und der ist mit dem Verteidigungsministerium verbunden, das wiederum mit der Regierung Kontakt hält – soweit alles klappt … Hier ist das Herzstück des Computers installiert. Hier befindet sich die Abschußvorrichtung für die beiden, über die gesamte Seitenlänge des C HAMÄLEON sich hinziehenden Mittelstreckenraketen, deren nukleare Vielfachsprengköpfe eine Reichweite von ungefähr fünftausend Kilometern haben. Damit sind sämtliche strategischen Ziele im Feindesland im Visier. Und Fehlschüsse wird es nicht geben, denn ein Leitstrahl sorgt dafür, daß der Sprengkopf das befohlene Ziel auch findet. Search and destroy ohne Probleme. Es sei denn, sie erwischen einen früher …
Im Kontrollraum gibt es keinen Abschußknopf für die Mittelstreckenraketen, nur eine Sicherheitsblockade. Die Entscheidungen über Leben und Tod werden in der Kommandozentrale gefällt, und dort sitzt Sticher.
Was ist Sticher für ein Mensch?
Viel läßt sich dazu nicht sagen, denkt Fischer. Er fühlt sich nicht wohl, wenn er seine Leute nicht heruntermachen kann, aber daran gewöhnt man sich in der Armee, das muß wohl so sein.
Hat er Kinder? Ist er verheiratet? Liebt er Blumen?
Fischer weiß es nicht. Ihr Kontakt ist rein
Weitere Kostenlose Bücher