Kopf Unter Wasser
vor ihnen entfaltete: dreiÃig Kilometer Fernsicht, eine Bergkette am Horizont, der Himmel noch immer strahlend blau, einige Wolkenformationen, die von Westen her aufzogen. Ansonsten Häuser, Beton, hell im Sonnenlicht, beinahe freundlich wirkend, nichts von einem chaotischen Moloch, vielspurige StraÃen, etwas Grün zwischen alldem, Baumgruppen, Parks, unmittelbar unter der Terrasse eine christliche Kirche und ein Kinderspielplatz, von dem Lachen und Geschrei heraufdrangen.
Henry hörte zwar Birtes erklärende Stimme, aber er war zu kaputt, um den Sinn ihrer Worte zu erfassen. Die Köchin kam mit einem Tablett heraus, auf dem mehrere kleine Schälchen standen, eine Schüssel mit Reis, zwei Teller, zwei Löffel und zwei Paar Essstäbchen aus Metall. Sie stellte das Tablett auf dem Plastiktisch ab und verbeugte sich.
»Danke«, sagte Henry.
»Auf Koreanisch: Gamsa hamnida «, sagte Birte. Sie tat Reis auf einen Teller und reichte ihn Henry.
»Was ist das?«, fragte Henry.
»Omelette, eingelegtes Gemüse, Saucen, kimchi , Fisch.« Birte reichte ihm die Essstäbchen: »Probieren Sie bitte.«
Die Köchin brachte eine Flasche mit kaltem Wasser, Henry bedankte sich auf Koreanisch, und sie begannen zu essen. Es schmeckte anders, als er erwartet hatte: rauchig, fischig. Dafür sah es sehr gesund aus.
Nach dem Essen brachte Birte das Tablett in die Küche und kam mit zwei weiteren Tassen des Bürokaffees zurück. Henry bot ihr eine Zigarette an. Sie rauchten.
»Wie sind Sie eigentlich hierhergekommen«, fragte Henry, »ins Goethe-Institut?«
»Ganz einfach: Ich habe mich beworben, nachdem ich mit dem Studium fertig war.«
»Und wie lange bleiben Sie?«
»Bis Mai nächsten Jahres. Das Praktikum dauert ein Jahr.«
»Und dann?«
»Ich weià noch nicht. Dann werd ich mir wohl einen Job suchen. â Suchen müssen .«
»In Hamburg?«
»Vielleicht in Hamburg, vielleicht in Berlin oder in Köln. Kommt drauf an, wo ich was finde.«
»Was für einen Job wollen Sie denn?«
»Irgendwas mit Medien oder in einem Verlag. Oder so was wie hier«, sie deutete mit dem Daumen auf die Kantine, »allerdings mit Bezahlung. â Ohne meine Eltern könnte ich das gar nicht machen.«
»Wohnen Sie hier im Haus?«
»Nein.« Sie lachte. »In Itaewon. Bei der Familie meiner Tante. â Das ist, warten Sie, ungefähr da.« Sie zeigte ins Häusermeer.
»Das ist nicht so weit weg.«
»Eine Viertelstunde mit dem Roller«, sagte Birte und sah auf die Uhr. »Ich muss Sie jetzt leider alleine lassen, wir müssen noch die Technik aufbauen und einen kleinen Imbiss vorbereiten.«
»Ich komm schon klar«, sagte Henry.
»Sie können sich in die Bibliothek setzen. Da gibt es deutsche Zeitungen und einen Computer, mit dem man ins Internet kommt.«
»Später vielleicht. â Ich bleib hier einfach sitzen, und Sie sagen mir, wenn es losgeht, okay?«
»Okay. â Dann geh ich mal«, sagte Birte und lief los.
»Eine Frage noch.«
Birte blieb stehen und drehte sich um: »Ja?«
»Wie alt sind Sie eigentlich?«
Birte guckte erstaunt. Ihr Gesicht sah aus, als würde sie in Sekundenbruchteilen sämtliche Möglichkeiten für den Grund seiner Frage durchspielen.
»Verzeihen Sie meine Direktheit«, schob Henry deshalb schnell hinterher, »ich weiÃ, dass man das eigentlich nicht fragt.«
»Siebenundzwanzig«, sagte Birte und fügte in einem schneidenden Ton an: »Zufrieden?« Dann entfernte sie sich.
»Ja«, sagte Henry. Er hatte sie um einiges jünger geschätzt. Ihr Zufrieden? hallte ihm böse in den Ohren nach. Bevor er unter dem Sonnenschirm einnickte, beschloss Henry, sich nachher bei Birte zu entschuldigen.
Er vergaà es, denn er träumte schlecht auf dem unbequemen Terrassenstuhl. Sein Nacken schmerzte, der Arm schlief ihm ein, in den Traumfetzen, an die er sich erinnern konnte, war Bettina erschienen.
Henrys Laune war mies, als ihn Birte eine halbe Stunde vor Lesungsbeginn weckte, indem sie ihn sanft an der Schulter berührte.
Es war kühl geworden, die Dämmerung hatte eingesetzt, im Stadtpanorama waren die Lichter angegangen. Auf dem Weg in den Veranstaltungssaal, der wieder über Gänge und Treppen führte, merkte Henry, dass sein Anzug zerknittert war. Er hätte gern geduscht.
Die Lesung fand
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