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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Kubiczek
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Klamottenläden, von Diskotheken und Restaurants. Der Geruch von gegrilltem Fisch, von Fett, das in glühende Holzkohle tropfte, lag in der Luft. Junge Menschen schoben sich über die Straßen, Bierflaschen in den Händen. Henry sah Geschäftsleute in Designeranzügen, die im Dreck lagen, zwischen Zigarettenkippen, leeren Getränkebüchsen und Essensresten, er sah fünf, sechs von ihnen allein in einer Nacht. Sie schliefen im Vollrausch, die Aktentaschen neben sich. Unter den weißen Manschetten lugten goldene Uhren hervor. Birte sagte, das sei normal, sie würden um die Wette saufen, eine Art Ritual, das niemanden störe, eine der Arten, mit beruflichem Stress umzugehen.
    Sie wanderten eine Dreiviertelstunde durchs Viertel, bevor sie sich auf die Terrasse eines Restaurants setzten, wo sie Bier tranken, Zigaretten rauchten und dem Strom der flanierenden Menschen zusahen.
    Henry war zu müde, um etwas zu sagen, und auch Birte schien erschöpft zu sein. Irgendwann stand sie auf und setzte sich auf den freien Platz neben Henry. Sie nahm seine Hand, drehte seinen Kopf in ihre Richtung, legte seine Hand auf ihren Oberschenkel, und Henry ließ sie gewähren. Er fühlte ihr warmes Bein unter dem dünnen Stoff des Kleides. Er strich zweimal vorsichtig über die Innenseite ihres Oberschenkels, dann entzog er ihr die Hand und legte sie um das Bierglas. Ihr plötzlicher Mut erstaunte ihn, das Fehlen der Unsicherheit, von der sie tagsüber immer wieder übermannt wurde, wenn sie beruflich miteinander umgingen. Nicht ganz zu Unrecht, wie Henry fand. Immerhin war er Kolumnist einer der bedeutendsten Zeitungen und obendrein erfolgreicher Buchautor, sie hingegen lediglich die Vertretung der regulären Betreuerin.
    Wie am Vortag küssten sie sich zum Abschied in einer dunklen Ecke neben dem Hoteleingang. Dasselbe taten sie zum Abschluss der dritten Nacht, die sie gemeinsam im Künstlerviertel Insa-Dong verbracht hatten. Während des Kusses versuchte Henry, Gedanken an Bettina zu verdrängen, was ihm nicht ganz gelang.
    Henry konnte nicht rekonstruieren, wie es dazu kam, dass er und Birte, zwanzig Minuten nachdem sie mit dem vergessenen Buch in der Hotelzimmertür gestanden hatte, nackt, außer Atem und trotz Klimaanlage von Schweißperlen bedeckt, zwischen den Laken lagen. (Vermutlich war es eine Konsequenz, die sich bereits aus ihrem ersten Telefongespräch ergab, aus dem Schauer, den ihm ihre Stimme über den Rücken gejagt hatte, aus der Wirklichkeit ihres Anblicks wenig später. Der Kontrast, das Nichtzusammenpassende. Die wenigen Berührungen und die Küsse im Dunkeln. Die Spannung, die sich tagsüber zwischen ihnen aufbaute, ohne sich lösen zu können. Aber im Grunde war es Unsinn, nach Ursachen zu forschen, ging es um Dinge wie diese, um Körper und die Seelen, die darin hausten, dachte Henry.)
    Erst als Birte nach einer halben Stunde das Zimmer wieder verließ, frisch geduscht, flüchtig gefönt und voller Angst, die Rezeption könne ihren Besuch als das missdeuten, was er nun tatsächlich geworden war, kehrte Bettina in Henrys Gedanken zurück.
    Die verbleibenden Tage in Seoul waren sich Henry und Birte nahe, ohne nochmals miteinander zu schlafen.
    Zum Abschied am Flughafen, nach tränenreicher Fahrt im Bus des Institutes – der Fahrer hatte getan, als bemerke er nichts –, küsste ihn Birte in der Abfertigungshalle, obwohl sich dergleichen in der Öffentlichkeit nicht ziemte. Sie hatte rote Augen. Henry strich ihr übers Haar. Das Maß ihrer Traurigkeit machte ihn einerseits ratlos und ließ ihn auf der anderen Seite an Birtes Aufrichtigkeit zweifeln.
    Er sagte, sie würden sich bestimmt bald wiedersehen, obwohl er nicht daran glaubte, während er es gleichzeitig bedauerte. Dann nahm er seinen Koffer und ging zur Sicherheitskontrolle: Birte war vollkommen anders als Bettina.

9.
    Nie wäre Bettina auf die Idee gekommen, Kampfsportunterricht zu nehmen. Nie hätte sie mithilfe von Sport versucht, etwas an ihrer Persönlichkeit zu verändern, nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass ihrer Persönlichkeit überhaupt etwas fehlen könnte.
    Auch Henry hatte bis zu dem Tag, als Birte ihm schrieb, sie habe zu trainieren begonnen, dergleichen für esoterischen Humbug gehalten. Nun aber fand er die Sache reizvoll. Durch Faust und Fuß auf den Weg des Geistes zu gelangen, wie Birte ausgeführt

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