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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Kubiczek
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so.«
    Neben dem Fernseher hatte Henrys Vater den Weihnachtsbaum aufgestellt, der jedes Jahr ein paar Zentimeter kleiner zu sein schien. In der Kindheit hatten die Baumspitzen bis zur Decke gereicht. An der kleinen Blautanne leuchteten elektrische Kerzen, und sie war bedeckt mit Lametta, das seine Mutter nach den Feiertagen sorgsam wieder abnahm, glatt strich und für das nächste Jahr aufbewahrte.
    Â»Nächstes Jahr kaufen wir die Würstchen wieder bei Mischke, das sag ich euch«, sagte der Vater am Tisch.
    Â»Ich tu euch schnell ein paar Fischstäbchen in die Pfanne«, sagte die Mutter und stand auf, »die kann man auch gut zum Salat essen.«
    Die Bescherung war eine lästige Pflicht, ein schon lange leeres und deshalb peinliches Ritual, das niemand abzuschaffen wagte. Man konnte es nur so schnell wie möglich hinter sich bringen.
    Henry bekam einen schwarzen Rollkragenpullover (von Plus, wie seine Mutter sagte), eine Flasche Sekt (akzeptabel, trockener Riesling, Flaschengärung) und das Beste: zwei Gläser selbst gemachte Leberwurst.
    Dann überreichte Henry seine Mitbringsel. Der Vater murmelte in seinen Bart, nachdem er die Schnapsflasche ausgewickelt hatte, und die Mutter sagte, sie sei froh, dass Henry dieses Jahr nicht wieder so etwas Teures angebracht habe, sondern etwas Nützliches und für den Vater etwas zum Feierabend.
    Den Gänsebraten mit Rotkohl aßen sie am nächsten Tag im Wohnzimmer. Im Fernsehen liefen ab dem Morgen Weihnachtssendungen: durch verschneite Landschaften stapfende Sänger, Spielfilme, in denen arme Kinder große Augen machten. Zum Abendbrot gab es Bratkartoffeln mit Speck und marinierten Matjes.
    Am zweiten Feiertag wärmte die Mutter die Bratenreste auf. Die Filme im Fernsehen waren weltlicher und um einiges lauter. Abends stellte die Mutter eine Platte mit Wurstbroten auf den Couchtisch, und der Vater holte Bier aus dem Keller. Henry fragte, ob er Senf haben könne, denn auch der Aufschnitt war nicht von Fleischer Mischke. Als Digestif nötigte ihm sein Vater einen Chantré auf.
    Am 27. Dezember fuhren sie gemeinsam nach Polen, wo es bei Stettin einen Markt gab, auf dem man schier alles kaufen konnte. Henry erstand zwei Stangen Zigaretten und aus purem Jux eine gefälschte Rolex (die er vier Jahre später, nachdem er seine wertvolle Glashütte-Uhr versetzt hatte, tatsächlich eine Weile tragen sollte, ehe sie der Imbissbesitzer als Pfand für eine Flasche Raki verlangte).
    Außerdem überredete Henry seine Mutter, polnische Wurst zu kaufen, geräucherte und gebrühte, Krakauer aus Rindfleisch und frische Mortadella. Der Vater tankte das Auto voll, sie gingen in ein Restaurant, aßen Schaschlik, tranken Bier und fuhren anschließend nach Hause, wo das Fernsehprogramm wieder frivol geworden war.
    Am nächsten Tag machte sich Henry auf den Weg nach Berlin, und erst als der Regionalexpress am Ostbahnhof einfuhr, fiel ihm ein, was er vergessen hatte, seinen Eltern zu sagen: dass sie in sechs Monaten Großeltern werden würden.

16.
    Schwer zu sagen, woher ihr plötzlicher Sinneswandel kam, in einer Situation, die ungünstiger nicht sein konnte, und nach fast dreißig Jahren, in denen es mit Sicherheit bessere Zeitpunkte gegeben hatte, ausgerechnet das zu verkünden. Birtes Verhalten war in hohem Maße irrational, ein rebellischer Akt, der in die Pubertät gehört hätte.
    Im März, einen Monat nach dem ersten gemeinsamen Besuch bei ihren Eltern, erklärte Birte mit großer Pose, sie wolle die Geburt ihrer Tochter nutzen, um sich endlich auf die eigenen Beine zu stellen, sich frei zu machen von den Abhängigkeiten, in denen sie gefangen sei.
    Â»Schön«, sagte Henry, »und was heißt das konkret?«
    Â»Also«, sagte Birte, holte tief Luft, lehnte sich in den cremefarbenen Ledersessel zurück und begann, mit der flachen Hand über ihren Bauch zu streichen, »das bedeutet zuallererst einmal, dass wir eine neue Wohnung brauchen.«
    Henry wollte etwas entgegnen, aber Birte schob schnell nach: »Für den Fall, dass du nicht mit mir zusammenziehen willst: Ich hab es schon mal gesagt, ich bekomme meine Tochter auch alleine groß.«
    Â» Unsere Tochter«, sagte Henry und dann: »Auch wenn ich es nicht zehnmal am Tag wiederhole, dass ich mit dir und dem Baby zusammenleben will, es ist trotzdem so. – Hast du gehört: Ich will . Punkt.«
    Â»Dann

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