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Kopf Unter Wasser

Kopf Unter Wasser

Titel: Kopf Unter Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Kubiczek
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sie, anders als Henry, ein Auto besaßen, mit dem sie einmal im Monat vor die Tore der zehn Kilometer entfernten Kreisstadt fuhren, wo es einen fünf Hektar großen Parkplatz gab, um den sich die Hallen konkurrierender Lebensmitteldiscounter gruppierten. Ihre Kühltruhe war vollgepackt mit Selbstgeschlachtetem, und dennoch kauften sie abgepacktes Industriefleisch hinzu. Seit der D-Mark-Einführung benutzte seine Mutter künstliche Soßen und rührte Püree aus der Tüte an, obwohl sein Vater auf dem kleinen Privatacker neben Kohl und Zwiebeln auch Kartoffeln anbaute.
    Jedes Mal, wenn Henry seine Eltern besuchte, fragte er sich, ob sie schon beim letzten Mal so teilnahmslos gewesen waren. Nach der Wende hatte der Vater zusammen mit zwei Kollegen versucht, die LPG zu übernehmen. Es dauerte sieben quälende Jahre, ehe sie endlich scheiterten und sein Vater in Frührente gehen konnte, ebenso wie die Mutter, die bis zum Ende als Sekretärin dort gearbeitet hatte. Mittlerweile bezogen beide ihre reguläre Rente, von der Henry nicht wusste, wie hoch sie war und ob sie reichte, um sorglos zu leben.
    Nur wenige Minuten nachdem er bezahlt hatte, ging Henry in die Parfümerie zurück und bat die Verkäuferin, den Chanel-Flakon in eine Großflasche 4711-Kölnischwasser umzutauschen. Seine Mutter würde nie den französischen Duft auflegen, und im Grunde gab ihr Leben auch keinen Anlass dafür her. Kölnischwasser dagegen kannte sie noch aus den Westpaketen von früher, winzige Fläschchen, Gratisproben vermutlich.
    Unten in der Lebensmittelabteilung entschied sich Henry dagegen, einen Blick ins Malt-Whisky-Regal zu werfen, sondern ging geradewegs zur Fuselabteilung und griff nach einer Flasche Chantré für seinen Vater.
    Zu Hause wickelte er die Geschenke ein und packte seine Reisetasche. Er nahm das Notebook mit, er wollte arbeiten, frei von den Ablenkungen der Stadt, vor allem frei von Birtes Schwangerschaftsgenerve, von ihren Schwäche- und Übelkeitsanfällen, die Henry stets aufs Ausführlichste würdigen musste, wollte er keinen Streit riskieren.
    Am Ostbahnhof stieg Henry in den Regionalexpress. Die wenigen Passagiere waren meist einzelne Männer mit Baseballmützen auf den Köpfen und Bierbüchsen in den Fäusten. Sie rauchten auch in den Abteilen, in denen es verboten war.
    Kurz nach acht hielt der Zug in der Kreisstadt. Aus dem Schatten des Bahnhofsgebäudes trat Henrys Vater hervor und hob zum Zeichen, dass er ihn erkannt hatte, die rechte Hand. Henry winkte zurück. Vom Himmel fielen große Flocken.
    Ihre Begrüßung war zurückhaltend, gerade, dass sie einander die Hand gaben.
    Â»Wie war die Fahrt?«
    Â»Normal. – Es waren kaum Leute im Zug.«
    Â»Ist auch schon spät, die meisten sitzen daheim unterm Baum.«
    Â»Vermutlich.«
    Â»Komm, gib mir die Tasche.«
    Â»Das geht schon, danke.«
    Sie gingen durch die leere Bahnhofshalle. Die Steinfliesen waren bedeckt mit feuchten, dreckigen Fußabdrücken, die Schritte hallten. Henry mochte den Bahnhof. Von hier war er mit den Großeltern nach Zingst gefahren, wo die LPG ein Ferienobjekt besessen hatte, drei Sommer hintereinander in den späten Siebzigerjahren. Die Fahrkarten damals waren kleine harte Pappkärtchen gewesen, die der Schaffner mit dem kräftigen Druck einer Zange lochte. In der Ecke neben dem Fahrkartenschalter hatte es eine Personenwaage gegeben, in die man Münzen werfen musste, wollte man sich wiegen.
    Â»Mutter hat Kartoffelsalat gemacht.«
    Â»Da freu ich mich schon den ganzen Tag drauf. – Mit Würstchen?«
    Â»Mit Wienern.«
    Â»Von Fleischer Mischke?«
    Â»Von Plus diesmal, die warn im Angebot.«
    Â»Ah«, sagte Henry. »Wo steht denn das Auto?«
    Â»Da hinten, neben der Haltestelle.«
    Die Kreisstadt, in der Henry zwölf Jahre lang zur Schule gegangen war, hatte in den letzten zehn Jahren fünftausend Einwohner verloren, ein Fünftel der Bevölkerung.
    Im Dorf sah es nicht besser aus. Der Konsum hatte ein Jahr nach der Wende zugemacht, das Gasthaus und die Poststelle im Jahr darauf. Nur einmal am Tag, morgens um halb neun, ging ein Bus in die Stadt, der um sechzehn Uhr dann zurückkehrte, sonn- und feiertags fuhr er gar nicht. Schulkinder gab es keine mehr, zweimal pro Woche kam ein fahrender Tante-Emma-Laden vorbei und parkte dort, wo in Henrys Kindheit die Fahrbibliothek gehalten

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